Die Strategie meiner Mutter, die Ängste auszuhalten, die sie seit dem Tod ihrer Mutter Johanna heimsuchten, war, die Zeit vergehen zu lassen und zu vergessen. Letzteres tat sie auf eine so gründliche Weise, dass ich noch heute manchmal darüber erschrecke, was für ein verklärtes Bild sie mitunter von unserer gemeinsamen Vergangenheit zeichnet. Dass ich sie weinend auf dem Zimmerfußboden fand – „ das ist doch Unsinn, das bildest du dir ein“ . Dass meine Stille, zu der es damals so gut wie nie eine innere Entsprechung gab, in unmittelbarer Verbindung zu der bedrohlichen Stille zwischen ihren Weinkrämpfen stand – „ ist doch absurd, welches Weinen denn, außerdem warst du schon immer ein ganz ruhiges und artiges Kind .“ Dass das, was mich vom Leben fernhielt, mit ihrem Leiden zu tun hatte - ist „ nur natürlich, alles hat immer mit irgendwas zu tun. Aber nicht so, wie du dir das vorstellst, Kinder erleben doch noch gar keine wirklich bleibenden Eindrücke. Ein Husch, und alles ist vergessen. Magst du noch von dem Kuchen? “
Der Kindergarten, den ich bald nach dem Tod meiner Großmutter besuchen musste, ist heute eine Galerie. Die Farbe und das Innere des Gebäudes haben sich komplett verändert, entgegen dem wettergegerbten weiß-grauen Anstrich des Holzvorbaus und der Seitenwände von damals erstrahlt das Gebäude heute in einem Gelb, das jedes Weizenfeld vor Neid erblassen ließe. Trotzdem bleiben die Beklemmungen; schon als ich den Weg wiedererkannte, wäre ich am liebsten wieder umgekehrt. Nun bin ich da. Ich rieche den Geruch des Linoleums, das schon lange nicht mehr in den Räumen liegt, ich schmecke den Nachtisch von vor dreißig Jahren und spüre das Alleinsein des Kindes unter Kindern. Vergangenheit und Gegenwart, was ist das?
Auch unser altes Viertel ist auf den ersten Blick kaum wiederzuerkennen: Die Häuser haben neue Dachziegel und vermutlich auch neue Heizungen bekommen, die Zäune um die Vorgärten eine andere Höhe, die Ziertannen eine neue Form und die Straßen- und Klingelschilder weitgehend neue Namen. Aber eben nur weitgehend. Einige erkenne ich wieder: Herr Priester, Familie Schüler. Was soll ich tun, klingeln? Könnte ich das überhaupt? Und falls ich mutig genug bin, das herauszufinden, was sollte ich fragen, was erzählen? Ich werfe einen Blick von draußen in den Trockenkeller, doch die Fenster sind keine, die Verkleidungen, die dort befestigt sind, wo früher Drahtglasscheiben waren, geben das Innere des Raumes nicht preis.
Es sind noch einige Stunden, die ich scheinbar ziellos durch den Ort laufe. Ich laufe auf den Wegen, auf denen ich als Kind nicht mit dem Fahrrad unterwegs sein durfte, obwohl ich es gern gewesen wäre, doch meine Mutter hielt es – „mit deinen schlechten Augen“ – für zu gefährlich. Wäre ich mit jemandem hier, würde ich davon erzählen, doch ich teile diesen Samstag mit niemandem.
Am Abend esse ich im „Seemannsheim“. Gemessen an der überschaubaren Zahl unserer Restaurantbesuche waren wir als Familie relativ oft hier, dennoch erschien es mir jedes Mal als etwas Besonderes: das Auswählen des Gerichtes, die Aufnahme der Bestellung durch den Ober, das gedämpfte Licht, die Welt der Erwachsenen. Wie es wohl sein wird, selbst dazuzugehören? Ich weiß noch, wie ich mir in Rollenspielen einen Platz in dieser Welt zuwies, immer aufs Neue mit dem Gefühl, ihn nicht ausfüllen zu können. Wird dann nicht alles aufhören, wenn wir die Erwachsenen sind?
Die Nacht verbringe ich in der „Waldhalle“, einer Pension mit Gastwirtschaft weit vor den Toren der Stadt. Ich liege in meinem Bett und kann nicht einschlafen. Es ist noch viel zu früh und ich habe – jedesmal ein Fehler – für zwei gegessen. Also stelle ich mir vor, wie es gewesen wäre, Simone Sonnentag heute in der Stadt zu begegnen. In meinem Kopf wechseln sich Bilder mir bekannter und unbekannter Enddreißigerinnen ab, die aber alle Simones Namen tragen. Schließlich siegt die Gewohnheit und meine Phantasie entscheidet sich für ein üppiges Blond. Nach einem kurzen Gespräch ohne Inhalt nimmt Simone unvermittelt meinen Penis in den Mund und noch bevor meine Phantasie dazu kommt, Purzelbäume zu schlagen, bin ich da.
Habe ich dir je wirklich von Sassnitz erzählt, von den Quallen am Strand unterhalb der Kreidefelsen, die Svennie und ich mit bloßen Händen fingen, um sie auf die großen Findlinge im Wasser zu legen, zum Trocknen oder zum besseren Zerteilen mit den kleineren Steinen, die es in Hülle und Fülle gab? Wie gern würde ich jetzt, wo es keine gemeinsamen Fahrten mehr geben wird, mit dir in Sassnitz unterwegs sein und dir alles zeigen. Warst du irgendwann einmal allein dort und hast an mich gedacht, als du schlussendlich wieder zurück zu deinen Eltern nach Neustrelitz gezogen warst?
Neustrelitz brachte Jörg; und wenn mir auch vieles fehlte nach diesem ungeliebten Umzug, wegen dem ich jetzt mit bald sechs Jahren in der Heimatstadt meiner Mutter wohnen musste – Svennie, der Strand, Frau Hauers Spielzeugladen, der Trockenkeller – so war dieser neue Freund doch viel; sicher viel mehr, als ich damals wusste, und schnell war er mir ein neues Zuhause.
In der Stadt zuhause war ich nie. Wenn ich heute nach Neustrelitz komme, was kaum mehr vorkommt, habe ich es immer mit mindestens vier Städten zu tun: Mit dem Neustrelitz meiner Kindheit, dem meiner Pubertät, dem Neustrelitz der jeweiligen Gegenwart und mit der Stadt, die ich aus den ihre Kindheit betreffenden Erzählungen meiner Mutter kenne. Schon eine davon ist mehr als genug.
„ Ist der neue Marktplatz nicht schön geworden?“„ Du meinst dieses Bollwerk aus Betonblumenkübeln?“ – „Hast du gesehen, dass sie auch eure Schule neu gestaltet haben?“ „Nein, ich bin anders gelaufen.“ – „Und die neue Unterführung?“ „Welche Unterführung?“
Einzig Jörg leuchtet und leuchtete aus diesem verzweifelten Grau heraus.
„Das ist Jörg!“ So, sagt meine Mutter, habe ich ihn vorgestellt, als ich ihn zum ersten Mal mit nach Hause brachte, nach oben, in den vierten Stock unseres neuen Wohnhauses, das nur einen Steinwurf entfernt vom Haus ihrer Kindheit lag. („Nur wegen dir sind wir nach Neustrelitz gezogen, Tom, allein wegen dir“.) Jörg und ich hatten uns an eben diesem Tag kennengelernt, ich war neu auf dem Spielplatz, ein Wort gab das andere, er war kaum größer, aber ein Jahr stärker, bald lag er auf mir und kurz danach standen wir dicht beieinander vor unserer Wohnungseingangstür. Für die nächsten zehn Jahre sollte sich das nicht mehr ändern.
Ich wäre gern mit ihm in eine Klasse gegangen, aber für seine war ich zu spät dran, und er wollte nicht sitzen bleiben. Wäre es besser gewesen mit ihm? Bestimmt wäre es das. Ich hatte Freundschaften geschlossen mit Svennie, mit Jörg, aber ich wusste nicht, wie man Freundschaften schließt. Schon im Kindergarten war es so gewesen, es gab die anderen und es gab mich in der Bauecke, und auch in der Schule sollte sich daran nur unwesentlich etwas ändern. Ich saß noch immer allein, vormittags auf meinem Platz in der ersten Reihe unseres Klassenraumes, der für mich und meine überstarke Brille reserviert war, und nachmittags vor dem Fernseher, ein Archiv von Kinder- und Vorabendserien der späten siebziger und frühen achtziger Jahre ist noch immer in meinem Kopf. Irgendwann nach den ersten Schulwochen stellte ich fest, dass alle Freundschaften in der Klasse geschlossen hatten, nur ich nicht. Ich musste ein Signal verpasst oder an einer geheimen Verabredung nicht teilgenommen haben, alle hatten jemanden, nur ich hatte niemanden und drehte verlegen auf dem Schulhof während der viel zu langen großen Pausen meine Runden. Aber ich hatte Jörg – und Jörg hatte mich.
Ich weiß nicht mehr, warum ich nicht auch in der Schule seine Nähe suchte. Vielleicht habe ich es getan und wurde enttäuscht (was ich noch wüsste), vielleicht habe ich ihn dort aber auch gemieden, weil es mich genierte, niemanden außer ihm zu haben. So wie es mich vor ihm und allen anderen genierte, von älteren Schülern gehänselt zu werden, wegen meiner Brille, wegen meiner vollen Wangen, wegen was weiß ich. Und was für ein Glück, einmal in Ruhe gelassen zu werden. Und was für ein noch größeres Glück, einmal in Ruhe gelassen worden zu sein, weil jemand anderes geopfert wurde.
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