Der Kriminalrat Zott machte eine Pause und sah den Obergruppenführer durch seine goldgeränderte Brille an, als erwarte er ein Wort der Anerkennung.
Aber der sagte nur: »Alles ganz schön und gut. Sicher sehr scharfsinnig. Aber ich sehe nicht, wie uns das weiterführt …«
»Ein wenig doch, Herr Obergruppenführer!« widersprach der Kriminalrat. »Ich werde natürlich in den Häusern der genannten Straßen vertraulich und sehr behutsam nachforschen lassen, ob dort ein Mann wohnt, auf den meine Folgerungen zutreffen.«
»Das wäre doch was!« rief der Obergruppenführer erleichtert. »Sonst noch was?«
»Ich habe nun«, sagte der Kriminalrat in stillem Triumph und zog eine zweite Karte hervor, »ich habe nun noch eine zweite Tabelle angefertigt, auf der ich mit Kreisen, die einen Durchmesser von einem Kilometer haben, die Hauptfundstellen rot eingekreist habe. Dabei sind die beiden Fundstellen Nollendorfplatz und mutmaßliche Wohnung außer Ansatz geblieben. Sehe ich mir diese elf Hauptfundstellen – es sind elf, Herr Obergruppenführer – genauer an, so mache ich die überraschende Entdeckung, daß sie alle, ausnahmslos alle, an oder in der Nähe von Straßenbahnhöfen liegen. Sehen Sie selbst, Herr Obergruppenführer! Hier! Und hier! Und dort! Da liegt der Bahnhof hier – etwas rechts, fast außerhalb des Kreises, aber immerhin auf seinem Radius. Und nun wieder hier – schön in der Mitte …«
Zott sah den Obergruppenführer fast flehend an. »Das kann kein Zufall sein!« sagte er. »Solche Zufälle gibt’s in der Kriminalistik nicht! Herr Obergruppenführer, der Mann muß irgendwas mit der elektrischen Straßenbahn zu tun haben. Es ist gar nicht anders möglich. Er muß dort nachts arbeiten, gelegentlich auch mal nachmittags. Er wird aber keine Uniform tragen, das wissen wir aus den Berichten der beiden Zeuginnen, die ihn beim Ablegen gesehen haben. Herr Obergruppenführer, ich erbitte Ihre Erlaubnis, auf jedem dieser Bahnhöfe einen sehr guten Mann einsetzen zu dürfen. Ich verspreche mir von dieser Aktion noch mehr als von der Nachfrage in den Häusern. Aber beide zusammen und gründlich durchgeführt, dann werden wir bestimmt einen Erfolg erzielen!«
»Sie schlauer Fuchs, Sie!« rief jetzt der Obergruppenführer, auch ganz aufgeräumt, und schlug den Kriminalrat auf die Schulter, daß das Männchen in die Knie sackte. »Sie alter schlauer Verbrecher! Das mit den Straßenbahnhöfen ist großartig. Der Escherich ist ein Hornvieh! Darauf mußte er kommen. Natürlich haben Sie meine Erlaubnis! Machen Sie ein bißchen schnell, und in zwei, drei Tagen melden Sie mir, daß der Mann geschnappt ist! Ich will’s dem Kamel, dem Escherich, noch selbst in die Schnauze schlagen können, was für ein Kamel er ist!«
Der Obergruppenführer ging, vergnügt lächelnd, aus dem Zimmer. Der Kriminalrat Zott, allein gelassen, hüstelte. Er setzte sich hinter seine Tabellen auf dem Schreibtisch, sah schief durch die Brille nach der Tür und hüstelte noch einmal. Er haßte alle diese lauten, hirnlosen Kerle, die nur brüllen konnten. Und diesen da, der eben aus dem Zimmer gegangen war, haßte er noch ganz besonders, diesen blöden Affen, der ihm immer den Escherich vorgehalten hatte. »Das hat der Escherich gesagt«, und »Das weiß ich schon vom Escherich, dem Kamel!« Und dann hatte er ihn scherzhaft auf die Schulter geschlagen, und dem Kriminalrat war jede körperliche Berührung verhaßt. Nein, dieser Kerl – nun, man mußte die Zeit abwarten. Ganz so sicher saßen auch diese Herren nicht im Sattel, nur schlecht verbargen sie unter ihrem Gebrüll die Angst, eines Tages gestürzt zu werden. So sicher und zackig sie auch auftraten, im Innern wußten sie recht gut, daß sie nichts konnten und nichts waren. Einem solchen Flachkopf hatte er seine große Entdeckung von den Straßenbahnhöfen mitteilen müssen, einem Mann, der den Scharfsinn gar nicht würdigen konnte, der dazu gehörte, so etwas herauszufinden! Perlen vor die Säue – immer das alte Lied!
Dann aber wendet sich der Kriminalrat wieder seinen Akten, seinen Tabellen, den Plänen zu. Er hat einen wohlgeordneten Kopf; er schiebt eine Lade zu und weiß von ihrem Inhalt nichts mehr. Er zieht die Lade Straßenbahnhöfe auf und beginnt, darüber nachzudenken, was der Kartenschreiber wohl für einen Posten bekleiden kann. Er ruft bei der Direktion der Verkehrsbetriebe, Abteilung Personalamt, an und läßt sich eine endlose Liste von Berufen aller bei der BVG Beschäftigten geben. Ab und zu macht er sich Notizen.
Er ist nur erfüllt von dem Gedanken, daß der Täter etwas mit der Straßenbahn zu tun hat. Er ist so stolz auf diese Entdeckung. Er wäre maßlos enttäuscht, wenn sie ihm jetzt den Quangel als Täter hereinbrächten, diesen Werkmeister aus einer Möbelfabrik. Es wäre ihm ganz egal, daß der Täter nun endlich gefaßt ist, sondern es würde ihn nur schmerzen, daß seine schöne Theorie falsch ist.
Und darum, als ein oder zwei Tage später die Suchaktion sowohl in den Häusern wie auf den Straßenbahnhöfen in vollem Gange ist, als da der Reviervorsteher dem Kriminalrat mitteilt, sie haben vielleicht den Täter, darum fragt er nur nach dem Beruf. Er hört Tischler, und der Mann ist für ihn erledigt. Straßenbahner muß er sein!
Angehängt und erledigt! So vollkommen erledigt, daß der Kriminalrat sich nicht einmal klarmacht, daß dieses Revier am Nollendorfplatz liegt, daß es Sonntag gegen Abend ist und daß am Nollendorfplatz gerade wieder einmal eine Karte fällig ist! Nicht einmal die Nummer des Reviers merkt sich der Kriminalrat. Diese Idioten, machen nichts als Dummheiten – erledigt!
Meine Leute werden mir schon Bescheid bringen, morgen, spätestens übermorgen. Was die Schupo macht, das ist doch meist Mist, das sind eben keine Kriminalisten!
Und so kommen die schon gefaßten Quangels wieder frei …
40
Otto Quangel wird unsicher
Die beiden Quangels sind an diesem Sonntagabend ohne ein Wort nach Hause gefahren, ohne ein Wort haben sie zu Abend gegessen. Frau Anna, die, als es darauf ankam, so mutig und entschlossen gewesen war, hatte in der Küche rasch einige heimliche Tränen geweint, von denen Otto nichts wissen durfte. Jetzt, hinterher, da alles ausgestanden war, haben Schrecken und Angst sie erfaßt. Beinahe wäre es schiefgegangen, um ein kleines, und es wäre zu Ende mit ihnen beiden gewesen. Wenn dieser Millek nicht so ein bekannter Querulant gewesen wäre. Wenn sie die Karte nicht hätte loswerden können. Wenn der Vorsteher im Revier ein anderer Mann gewesen wäre – man sah es ihm ja an, daß er diesen Denunzianten nicht ausstehen konnte! Ja, einmal ist es noch wieder gutgegangen, aber nie, nie darf sich Otto wieder in eine solche Gefahr begeben.
Sie kommt in die Stube, wo ihr Mann rastlos auf und ab geht. Sie brennen kein Licht, aber er hat die Verdunklung hochgezogen, es ist Mondschein.
Otto geht auf und ab, immer noch wortlos.
»Otto!«
»Ja?«
Er bleibt mit einem Ruck stehen und sieht zu der Frau hinüber, die sich in die Sofaecke gesetzt hat, kaum sichtbar in dem fahlen, schwachen Mondlicht, das in die Stube sickert.
»Otto, ich glaube, jetzt machen wir am besten eine Pause. Im Augenblick haben wir kein Glück.«
»Geht nicht«, antwortet er. »Geht nicht, Anna. Das würde auffallen, wenn plötzlich keine Karten mehr kommen. Jetzt gerade, wo sie uns beinahe erwischt haben, würde es besonders auffallen. So dumm sind die auch nicht – die würden merken, daß da ein Zusammenhang besteht zwischen uns und den Karten, die plötzlich nicht mehr kommen. Wir müssen schon weitermachen, ob wir wollen oder nicht.«
Er setzte hart hinzu: »Und ich will!«
Sie seufzte schwer. Sie hatte nicht den Mut, ihm laut beizustimmen, obwohl sie einsah, er hatte recht. Dies war kein Weg, auf dem man einhalten konnte, wenn man wollte. Es gab kein Zurück, keine Ruhe. Man mußte immer weiter.
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