Schließlich fragte er: »Du meinst also wirklich, wir sollten so etwas anfangen? Ich soll in der Fabrik etwas aufstellen?«
»Gewiß«, sagte sie. »Wir müssen etwas tun, Karli, damit wir uns nicht so sehr schämen müssen.«
Er überlegte eine Weile, dann sagte er: »Ich kann mir nicht helfen, Trudel, wenn ich mir das so vorstelle, wie ich in der Fabrik herumschleiche und Maschinen verderbe, es paßt nicht zu mir.«
»So überlege dir, was zu dir paßt! Es wird dir schon einfallen. Es muß ja nicht gleich sein.«
»Und hast du dir schon überlegt, was du tun willst?«
»Ja«, sagte sie. »Ich weiß eine Jüdin, die sich versteckt hält. Sie hat schon abtransportiert werden sollen. Aber sie ist bei schlechten Leuten und fürchtet jeden Tag Verrat. Die werde ich zu uns nehmen.«
»Nein!« sagte er. »Nein, das tu nicht, Trudel! So belauert, wie wir sind, kommt es sofort raus. Und dann denk an die Lebensmittelkarten! Die hat doch bestimmt keine! Wir können doch nicht noch einen Menschen von unseren beiden Karten ernähren!«
»Können wir das nicht? Können wir wirklich nicht ein bißchen hungern, wenn dadurch ein Mensch vom Tode errettet wird? Ach, Karli, wenn das so ist, dann hat es der Hitler wirklich leicht. Dann sind wir alle bloß Dreck, und es geschieht uns ganz recht!«
»Aber man wird sie bei uns sehen! In unserer kleinen Wohnung läßt sich niemand verstecken. Nein, das erlaube ich nicht!«
»Ich glaube nicht, Karli, daß du mir was zu erlauben hast. Es ist ebenso meine wie deine Wohnung.«
Sie gerieten in einen lebhaften Streit darüber, in den ersten wirklichen Streit ihrer Ehe. Sie sagte, sie würde die Frau, während er auf Arbeit wäre, einfach ins Haus bringen, und er verkündete, er würde sie auf der Stelle rausschmeißen.
»Dann schmeiß mich nur gleich mit raus!«
So weit gingen sie. Beide waren zornig, gereizt, böse. Sie legten die Sache nicht bei, hier gab es keinen Kompromiß. Sie wollte durchaus etwas tun, gegen den Hitler, gegen den Krieg. Prinzipiell wollte er auch etwas tun, aber es durfte kein Risiko dabei sein, nicht das geringste bißchen Gefahr wollte er laufen. Das mit der Jüdin war einfach Wahnsinn. Nie würde er es erlauben!
Sie gingen schweigend durch die Straßen Erkners nach Hause. Sie schwiegen so intensiv, daß es immer schwerer schien, dies Schweigen noch zu brechen. Sie hatten sich nicht mehr untergefaßt, ohne Berührung gingen sie nebeneinander. Als sich einmal zufällig die Hände streiften, zog jedes eilig die eigene zurück, und sie vergrößerten den Abstand voneinander.
Sie achteten nicht darauf, daß vor ihrer Tür ein großes, geschlossenes Auto hielt. Sie stiegen die Treppe hinauf und merkten nicht, daß sie aus jeder Tür neugierig oder ängstlich angesehen wurden. Karl Hergesell schloß die Wohnungstür auf und ließ die Trudel vor sich her eintreten. Noch auf dem Flur merkten sie nichts. Erst als sie in der Stube den kleinen, untersetzten Mann in einer grünen Joppe sahen, schreckten sie zusammen.
»Nanu?« sagte Hergesell empört. »Was machen Sie denn hier in meiner Wohnung?«
»Kriminalkommissar Laub von der Gestapo, Berlin«, stellte sich der Mann in der grünen Joppe vor. Er hatte das Jägerhütchen mit dem Rasierpinsel darauf auch in der Stube auf dem Kopf.
»Herr Hergesell, nicht wahr? Frau Gertrud Hergesell, geborene Baumann, genannt Trudel? Schön! Ich hätte gern einmal ein paar Worte mit Ihrer Frau gesprochen, Herr Hergesell. Vielleicht warten Sie solange in der Küche?«
Sie sahen einander angstvoll in die blaß gewordenen Gesichter. Dann lächelte Trudel plötzlich. »Also auf Wiedersehen, Karli!« sagte sie und umschlang ihn. »Auf ein gutes Wiedersehen! Wie dumm es war, uns zu streiten! Es kommt doch immer anders, als man denkt!«
Der Kommissar Laub räusperte sich mahnend. Sie küßten sich. Hergesell ging.
»Sie haben von Ihrem Mann eben Abschied genommen, Frau Hergesell?«
»Ich habe mich mit ihm versöhnt, wir hatten einen Streit miteinander.«
»Worüber hatten sie sich denn gestritten?«
»Über den Besuch einer Tante von mir. Er war dagegen, ich dafür.«
»Und mein Anblick hat Sie dazu bestimmt, nachzugeben? Merkwürdig, sehr sauber scheint Ihr Gewissen nicht zu sein. Augenblick mal! Sie bleiben hier!«
Sie hörte ihn in der Küche mit Karli reden. Wahrscheinlich würde Karli eine andere Ursache des Streites angeben, diese Sache lief vom ersten Anfang an falsch. Sie hatte sofort an Quangel gedacht. Aber eigentlich sah es Quangel wenig ähnlich, einen Menschen zu verraten …
Der Kommissar kam zurück. Er sagte, sich zufrieden die Hände reibend: »Ihr Mann erklärt, Sie hätten sich darüber gestritten, ob Sie ein Kind adoptieren wollten oder nicht. Das ist die erste Lüge, bei der ich Sie ertappt habe. Keine Angst, in einer halben Stunde werden eine Masse Lügen von Ihnen dazugekommen sein, und bei allen werde ich Sie ertappen! Sie haben eine Fehlgeburt gehabt?«
»Ja.«
»Ein bißchen nachgeholfen, was? Damit der Führer keine Soldaten mehr kriegt, wie?«
»Jetzt haben Sie aber gelogen! Wenn ich so was gewollt hätte, hätte ich wohl kaum bis zum fünften Monat gewartet!«
Ein Mann kam herein, einen Zettel in der Hand.
»Herr Kommissar, den hat Herr Hergesell eben in der Küche verbrennen wollen.«
»Was ist das? Ein Hinterlegungsschein? Frau Hergesell, was ist das für ein Koffer, den Ihr Mann auf dem Bahnhof Alexanderplatz hinterlegt hat?«
»Ein Koffer? Ich habe keine Ahnung, mir hat mein Mann nie ein Wort davon gesagt.«
»Holen Sie den Hergesell rein! Ein Mann soll sofort mit dem Auto zum Alexanderplatz fahren und den Koffer holen!« Ein dritter Mann führte Karl Hergesell herein. Die ganze Wohnung steckte also voll Polizei, sie waren blind hineingetappt.
»Was ist das für ein Koffer, Herr Hergesell, den Sie da auf dem Alexanderplatz hinterlegt haben?«
»Ich weiß nicht, was drin ist, ich habe nie hineingesehen. Er gehört einem Bekannten. Er sagte, es ist Wäsche und Kleidung darin.«
»Sehr wahrscheinlich! Darum wollten Sie ja auch den Schein verbrennen, als Sie merkten, daß Polizei in der Wohnung ist!«
Hergesell zögerte, dann sagte er mit einem raschen Blick auf seine Frau: »Das habe ich getan, weil ich dem Bekannten nicht ganz traue. Es könnte ja auch etwas anderes darin sein. Der Koffer ist sehr schwer.«
»Und was könnte Ihrer Ansicht nach wohl in dem Koffer drin sein?«
»Vielleicht Druckschriften. Ich habe mir immer Mühe gegeben, nicht daran zu denken.«
»Was ist denn das für ein komischer Bekannter, der seinen Koffer nicht selbst zur Aufbewahrung geben kann? Heißt er vielleicht Karl Hergesell?«
»Nein, er heißt Schmidt, Heinrich Schmidt.«
»Und woher kennen Sie ihn, diesen sogenannten Heinrich Schmidt?«
»Ach, den kenne ich schon lange, schon mindestens zehn Jahre.«
»Und wie kamen Sie auf den Gedanken, daß es Druckschriften sein könnten? Was war denn dieser Emil Schulz?«
»Heinrich Schmidt. Der war Sozialdemokrat oder auch Kommunist. Darum bin ich ja auf den Gedanken gekommen, daß da Druckschriften drin sind.«
»Wo sind Sie denn eigentlich geboren, Herr Hergesell?«
»Ich? Hier in Berlin. In Berlin-Moabit.«
»Und wann?«
»Am 10. April 1920.«
»So, und den Heinrich Schmidt wollen Sie seit mindestens zehn Jahren kennen und über seine politische Einstellung Bescheid wissen! Da dürften Sie also elf Jahre alt gewesen sein, Herr Hergesell! Zu dumm dürfen Sie mich auch nicht ansohlen, dann werde ich nämlich ungemütlich, und wenn ich ungemütlich werde, dann tut Ihnen gleich was weh!«
»Ich habe nicht gelogen! Alles, was ich gesagt habe, ist wahr.«
»Name Heinrich Schmidt: erste Lüge! Inhalt des Koffers nie gesehen: zweite Lüge! Grund des Aufbewahrens: dritte Lüge! Nee, mein lieber Herr Hergesell, jeder Satz, den Sie gesagt haben, ist gelogen!«
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