»Nein! Nein! Nein!« schrie Frau Quangel, verzweifelt aufspringend. »Ich sage kein Wort mehr! Ich verrate niemanden! Sie können sagen, was Sie wollen, Sie können mich totschlagen: ich rede nichts mehr!«
»Setzen Sie sich nur ruhig wieder hin«, sagte der Kommissar Laub und versetzte der Verzweifelten ein paar Schläge. »Wann Sie aufstehen dürfen, bestimme ich. Und wann das Verhör zu Ende ist, das bestimme ich auch. Jetzt wollen wir erst mal die Sache mit der Trudel Baumann zu Ende bequatschen. Nachdem Sie mir eben gestanden haben, daß sie Hochverrat begangen hat …«
»Das habe ich nicht gestanden!« rief die gequälte, verzweifelte Frau.
»Sie haben gesagt, Sie wollen die Trudel nicht verraten«, sagte der Kommissar gleichmütig. »Und nun laß ich nicht eher nach, bis Sie mir gesagt haben, was es da zu verraten gibt.«
»Nie sage ich das, nie!«
»Na also! Sehen Sie, Frau Quangel, Sie sind dumm. Sie müssen sich doch selbst sagen, daß ich das, was ich wissen will, morgen in fünf Minuten der Trudel Baumann glatt und bequem aus der Nase ziehe. So ’ne schwangere Frau, die hält doch solch Verhör nicht lange aus. Wenn ich der ein paar runterhaue …«
»Sie dürfen die Trudel nicht schlagen! Sie dürfen das nicht! Oh, lieber Gott, hätte ich doch nie ihren Namen genannt!«
»Sie haben ihn aber genannt! Und Sie machen es Ihrer Trudel viel leichter, wenn Sie alles gestehen. Nun, wie ist es, Frau Quangel? Was hat die Trudel zu den Karten gesagt?«
Und später: »Ich könnt’s von der Trudel erfahren, aber gerade will ich, daß Sie es mir jetzt sagen. Ich laß nicht eher nach! Sie sollen’s lernen, daß Sie einfach ein Dreck sind vor mir. Sie sollen’s lernen, daß alle Ihre Vorsätze, den Mund zu halten, Mist sind vor mir. Sie sollen lernen, daß Sie gar nichts wert sind, Sie mit all Ihrem Gerede von Treue und Nichtverratenwollen. Nichts sind Sie! Nun, Frau Quangel, wetten, daß ich zwischen jetzt und einer Stunde aus Ihrem Munde höre, was die Trudel mit den Postkarten zu tun hat?! Wetten?«
»Nein! Nein! Nie!«
Aber natürlich erfuhr es der Kommissar Laub, und es dauerte nicht mal eine Stunde.
52
Die betrübten Hergesells
Hergesells machten ihren ersten Spaziergang nach Trudels Fehlgeburt. Sie gingen die Straße nach Grünheide hinaus, bogen dann aber links in den Frankenweg ein und wanderten am Ufer des Flakensees auf die Woltersdorfer Schleuse zu.
Sie gingen sehr langsam, ab und zu warf Karl einen raschen Blick auf Trudel, die mit gesenktem Blick neben ihm ging.
»Es ist schön im Walde«, sagte er.
»Ja, es ist schön«, antwortete sie.
Ein wenig später rief er: »Sieh dort die Schwäne auf dem See!«
»Ja«, antwortete sie. »Schwäne …«
Und nichts mehr.
»Trudel«, sagte er besorgt, »warum sprichst du nicht? Warum freut dich nichts mehr?«
»Ich muß immer an mein totes Kind denken«, flüsterte sie.
»Ach, Trudel«, sagte er. »Wir werden noch viele Kinder haben!«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich werde nie mehr ein Kind haben.«
Er fragte ängstlich: »Hat der Doktor dir das gesagt?«
»Nein, nicht der Doktor. Ich fühle es.«
»Nein«, sagte er. »So darfst du nicht denken, Trudel. Wir sind doch jung, wir können noch so viele Kinder haben.«
Wieder schüttelte sie den Kopf. »Ich denke manchmal, das jetzt war meine Strafe.«
»Eine Strafe! Wofür denn, Trudel? Was haben wir denn verbrochen, daß wir so gestraft werden? Nein, es war ein Zufall, bloß ein blinder, gemeiner Zufall!«
»Es war kein Zufall, es war eine Strafe«, sagte sie hartnäckig. »Wir sollen kein Kind haben. Ich muß immer daran denken, was aus dem Klaus geworden wäre, wenn er älter geworden wäre. Jungvolk und HJ, SA oder SS …«
»Aber, Trudel!« rief er, ganz verblüfft von den schwarzen Gedanken, mit denen seine Frau sich plagte. »Wenn der Klaus größer geworden wäre, dann wäre es ja längst mit der ganzen Hitlerei vorbei gewesen. Die dauert nicht mehr lange, verlaß dich drauf!«
»Ja«, sagte sie, »und was haben wir dazu getan, daß die Zukunft besser wird? Gar nichts! Schlimmer als nichts: wir haben die gute Sache verlassen. Ich muß jetzt soviel an Grigoleit und den Säugling denken … deswegen sind wir bestraft …«
»Ach, dieser elende Grigoleit!« sagte er ärgerlich.
Er hatte einen schweren Zorn auf Grigoleit, der immer noch nicht seinen Koffer geholt hatte.
Schon ein paarmal hatte Hergesell den Einlieferungsschein erneuern müssen.
»Ich denke«, sagte er, »der Grigoleit sitzt längst. Man hätte sonst wohl wieder etwas von ihm gehört.«
»Wenn er sitzt«, beharrte sie, »sind wir mit daran schuld. Wir haben ihn im Stich gelassen.«
»Trudel!« rief er. »Ich verbiete dir, solch einen Unsinn auch nur zu denken! Wir haben nicht das Zeug zu Verschwörern. Für uns war es das einzig richtige, damit aufzuhören.«
»Ja«, sagte sie bitter, »aber wir haben das Zeug zu Drückebergern, zu Feiglingen! Du sagst, der Klaus hätte nicht mehr in die HJ gemußt. Aber wenn er es nicht gemußt hätte, wenn er seine Eltern hätte achten und lieben dürfen – was haben wir dazu getan? Was haben wir für eine bessere Zukunft getan? Nichts!«
»Es können nicht alle Verschwörer spielen, Trudel!«
»Nein. Aber man hätte anderes tun können. Wenn sogar ein Mann wie mein früherer Schwiegervater, der Otto Quangel …« Sie brach ab.
»Nun, was ist mit dem Quangel? Was weißt du von ihm?«
»Nein, ich sage dir das lieber nicht. Ich habe es ihm auch versprochen. Aber wenn sogar ein alter Mann wie der Otto Quangel gegen diesen Staat arbeitet, so finde ich es schmählich, daß wir die Hände in den Schoß legen!«
»Aber was können wir denn tun, Trudel? Nichts! Denk an alle Macht, die der Hitler hat, und wir beide sind rein gar nichts! Nichts können wir tun!«
»Wenn alle so dächten wie du, würde Hitler ewig die Macht behalten. Einer muß gegen ihn zu kämpfen anfangen.«
»Aber was können wir tun?«
»Was? Alles! Wir könnten Aufrufe schreiben und an die Bäume hängen! Du arbeitest in der chemischen Fabrik, kommst als Elektriker in jeden Werkraum. Du brauchst nur einen Hahn anders zu stellen, die Schraube an einer Maschine zu lockern, und das Ergebnis von vielen Tagewerken ist kaputt. Wenn du so was tust, und noch ein paar hundert andere, der Hitler würde sich schön umsehen, wo sein Kriegsmaterial bleibt.«
»Ja, und nach dem zweiten Mal schon hätten sie mich beim Schlips, und ab mit mir zur Hinrichtung!«
»Das ist es ja, was ich immer sage: Wir sind feige. Wir denken nur an das, was mit uns geschehen wird, nie an das, was den andern geschieht. Sieh mal, Karli, du bist von der Wehrmacht freigestellt. Aber wenn du Soldat sein müßtest, wärest du ja auch jeden Tag in Lebensgefahr und fändest es sogar selbstverständlich.«
»Ach, bei den Preußen würde ich auch schon einen Druckposten kriegen!«
»Und würdest andere für dich sterben lassen! Alles, wie ich es sage. Feige sind wir, zu nichts taugen wir!«
»Diese verdammte Treppe!« brach er los. »Wenn das mit deiner Fehlgeburt nicht gekommen wäre, wir hätten so glücklich weitergelebt!«
»Nein, es wäre kein Glück gewesen, kein richtiges, Karli! Schon seit ich mit dem Klaus ging, habe ich immer daran denken müssen, was aus dem Jungen wird. Ich hätte es nicht ertragen, wenn er den rechten Arm zum Heil Hitler ausgestreckt hätte, ich hätte ihn nicht im braunen Hemd sehen mögen. Wenn wieder einmal ein Sieg gefeiert wäre, hätte er erlebt, wie seine Eltern fein artig die Hakenkreuzfahne aushängten, und er hätte gewußt, daß wir Lügner sind. Nun, das wenigstens ist uns erspart geblieben. Wir haben den Klaus nicht haben sollen, Karli!«
Er ging eine Weile in finsterem Schweigen neben ihr. Sie waren jetzt auf dem Rückweg, aber sie sahen weder See noch Wald.
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