„Mir scheint, etwas trübt meine Sinne oder sind wir eben tatsächlich durch eine Mauer gegangen?“, fragte der Goblinkönig mehr zu sich selbst.
„Ich denke schon“, antwortete der Kobold, „Allerdings konnte ich mich nicht erinnern, jemals zuvor an diese Stelle gekommen zu sein“
Tados Schulter schmerzte vom Aufprall, als hätte er sich damit in glühende Kohlen gelegt. Trotzdem sah er sich um. Der Gang, indem sie sich jetzt befanden, besaß die gleichen gemauerten Wände wie der Rest des Labyrinths. Der Boden aber war mit faustgroßen, blankpolierten, bunten Steinen gepflastert, glatt und absolut ebenmäßig. Der Anblick versetzte Tado in Staunen. Auf eine Frage an Allo, was das für Steine seien, antwortete er nur mit: „Ich glaube, ihr nennt es Edelsteine.“ Kaher, der den Satz mitbekommen hatte, wurde nun hellhörig: „Wenn das wirklich alles Edelsteine sind, dann liegen hier unvorstellbare Werte einfach so herum!“ Fast ein bisschen wehmütig betrachtete er das glitzernde Pflaster.
„Und was nützen euch diese Steine?“, fragte Allo schließlich. Kaher war so perplex über die Frage, dass er ihn nur verständnislos ansah. Der Kobold fuhr fort: „Ich meine, sie haben doch keinen praktischen Nutzen.“
„Aber bei uns werden sie auch als Zahlungsmittel benutzt, und mit dieser Menge“, er machte eine weit ausholende Geste und schlug Spiffi dabei gegen die Nase, „hätten Generationen ausgesorgt.“
Der Kobold teilte die Euphorie des Goblinkönigs offensichtlich nicht im Geringsten, denn er schüttelte nur den Kopf und ging weiter. Nach kurzem Zögern folgten ihm die anderen. Der Gang schien sich endlos weit dahinzuziehen. Ihre Schritte schlugen unheimliche Echos aus dem Pflaster, die weit in den Gang hineinhallten.
Nach einer halben Stunde Fußmarsch kamen sie an einen aus gläsernen Steinen gemauerten Brunnen. Darin befand sich trotz des roten Scheins der Fackel hellblau schimmerndes Wasser. Tado schöpfte eine handvoll und trank. Die Schmerzen in der Schulter verschwanden urplötzlich und einige kleine Schrammen, die er sich bei seiner Stolpertour durch die Wand zugezogen hatte, schlossen sich vor seinen Augen.
„Das muss Wasser von der Quelle des Lebens sein!“, rief Regan aufgeregt. Allo nickte nur: „Vor langer Zeit legten einige Kobolde, Vorfahren meines Volkes, diese Stätte hier tief im Innern des Labyrinths an. Ich hielt es immer für eine Legende.“
Während Kaher immer noch fasziniert den Boden betrachtete, holte Spiffi seine mittlerweile leere Wasserflasche aus dem Rucksack und tauchte sie in das Wasser. Sie blieb leer.
„Ich sagte euch doch, dass man das Wasser nur mit besonderen Gefäßen transportieren kann“, erwiderte Kaher daraufhin.
„So etwas wie das hier vielleicht?“, fragte Regan, der einmal um den Brunnen herumgelaufen war und mit einer Vielzahl von Behältern aus einem Tado unbekannten Material in den Armen wiederkam. Nachdem der Goblin alles abgestellt hatte, nahm er sich eines der flaschenförmigen Objekte und tauchte es in das Wasser. Diesmal blieb es nicht leer, sondern füllte sich bis oben hin. Regan schloss den Behälter mit einer Art Korken. Tado und die anderen taten es ihm gleich. Mit diesem Wasser würde es eine Leichtigkeit sein, stundenlang unermüdlich durch endlose Gänge zu marschieren, ohne je pausieren zu müssen.
Eine ganze Weile besahen sie sich noch den Brunnen und den Fußboden aus Edelsteinen, ehe sie sich von dem Anblick losrissen, um ihren Marsch durch den gemauerten Gang weiter fortzusetzen, der eine gute halbe Stunde geradeaus führte, ehe er einen sanften Bogen nach rechts beschrieb. An deren Ende wurde der Boden uneben, und Tado begann, etwas zu spüren: Das beängstigende Gefühl fremder Präsenz erfüllte ihn von Neuem, doch auf eine andere Art als vorhin. Ein eisiger Blick schien ihn zu treffen, der sich wie ein kalter Schatten über den Sinnen ausbreitete und einen einzigen Gedanken immer stärker werden ließ: Gefahr. Doch bevor die Panik, die aus dem Gespürten und Gedachten hervorging, endgültig seine Sinne einhüllte und ihn einfach zum Weglaufen zwang, wurde Tado plötzlich aus seinen Überlegungen gerissen, als jemand seinen Namen rief. Es kostete ihn große Mühe, den Kopf zu drehen, um zu Spiffi zu blicken, dessen Worte ihn im allerletzten Moment davor bewahrt hatten, sich ziemlich schmerzhaft den Kopf an einer jäh aufragenden Wand zu stoßen.
„Du wärst eben beinahe gegen die Mauer gelaufen“, meinte sein Retter verwundert. „Ist dir schlecht oder so?“
Tado musste sich ein Grinsen verkneifen.
„Nein, ich... hatte eben nur so ein komisches Gefühl“, sagte er schließlich ausweichend. Er zog es vor, Spiffi lieber nicht zu erzählen, was für ein Gefühl das war, vermutlich wäre dieser sofort in Panik verfallen. Stattdessen besah er sich die vor ihnen liegende Wand. Sie sah so aus wie der Rest des Labyrinths. Allerdings war in ihr eine mannshohe Öffnung eingelassen, die von schweren Holzbohlen versperrt wurde. Tado klopfte prüfend gegen die Tür, die prompt mit einem Ächzen und einem sonderbar hohlen Geräusch antwortete, welches verriet, dass das Holz ungefähr zehn Holzwurmfamilien als Wohnstätte dienen musste, während Kaher einen wahrlich gigantischen Schlüssel von einem Haken nahm, der seitlich des versperrten Durchganges angebracht war, steckte ihn ins Schloss und drehte das völlig verrostete Kleinod im wahrscheinlich noch mehr verrosteten Schloss. Nichts. Die Tür bewegte sich keinen Millimeter. Auch als der Goblinkönig wie verrückt am Griff zerrte, gab das rotbräunlich zerfressene Metall nur ein beleidigtes Quietschen von sich, ehe es einfach abbrach. Kaher blickte verdutzt auf das Etwas in seiner Hand, das einmal ein Türgriff gewesen war, während Allo und Spiffi ihn beinahe entsetzt ansahen.
Währenddessen hatte Tado einige Schritte Anlauf genommen und blickte nun starr auf die Tür. Regan sah ihm misstrauisch zu. Schließlich rannte er auf den Ausgang zu und warf sich mit der Schulter gegen die Bretter. Zumindest wollte er das, doch kurz vor dem Aufprall begannen die Angeln plötzlich zu quietschen, während sich mit einem Ruck die Holzbohlen nach außen drehten und Tado wieder einmal unsanft und mit einem beunruhigend knirschenden Geräusch in den Schultern auf dem nackten Labyrinthboden aufschlug. Spiffi sah verwundert von der offenen Tür zu Tado und wieder zurück, während Regan mit einem spöttischen Lächeln an ihm vorbei trat. Als auch die anderen den Durchgang durchschritten hatten, schloss sich das Tor wie auf magische Weise (und mit einem in den Ohren schmerzenden Quietschen) wieder.
Danach war es still. Sie befanden sich in einem Gang, der vermutlich seit Jahrhunderten nicht mehr betreten wurde. Auf dem Boden lag zentimeterdicker Staub und die Luft roch modrig und verbraucht. Die wenigen sichtbaren Mauerflecken, die nicht von Schmutz und Spinnenweben übersät waren, glichen dem hinter ihnen liegenden Labyrinth allerdings wieder wie ein Ei dem anderen. Schließlich brach Spiffi das langsam unangenehm werdende Schweigen mit einer sinnlosen Frage: „Wo sind wir?“
Er hatte nicht wirklich eine Antwort erwartet, doch er bekam sie - wenn auch von jemandem, von dem er es am wenigsten erwartete. „Ihr seid in meiner Gefangenschaft!“, dröhnte eine unwirklich widerhallende Stimme aus einer nicht zu bestimmenden Richtung. Plötzlich griff eine kalte Hand von hinten nach Tados Schulter und er spürte die scharfe, metallene Klinge eines großen Messers an seinem Hals. Die Kreatur, die ihn festhielt, trat nur soweit aus dem Schatten heraus, dass ihr Gesicht unkenntlich blieb. „Eine falsche Bewegung und euer Freund büßt seinen Kopf ein!“, raunte das Etwas. „Ihr werdet euch jetzt alle...“
Weiter kam er nicht. Tado hatte mit seiner freien Hand den Messergriff von seiner Kehle wegbefördert und dem Unbekannten gleichzeitig einen saftigen Stoß mit dem Ellbogen in die Magenkuhle gegeben, sich blitzschnell umgedreht und ihm mit seiner Faust unters Kinn geschlagen, sodass einige seiner Zähne abbrachen. Das Etwas sank unter einem halb enttäuschten, halb schmerzvollen Schrei zusammen, machte aber noch Anstalten, Tado mit dem riesigen Messer zu erstechen, sodass dieser sich gezwungen sah, ihm noch einen zweiten und dritten Fausthieb zu verpassen, unter dem wahrscheinlich sämtliche übrig gebliebenen Zähne zerschmettert wurden. Als es schließlich vollends zu Boden sank, und er einige Schritte zurückwich, sah er, dass es weder ein Mensch noch ein anderes ihm bekannten Wesen war.
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