Jessica war noch nicht fertig, da schrie Ben sie auf einmal an:
„Packen!“
Erschrocken fuhr sie zusammen.
Für einen Moment schien er irritiert, dass sie seinem Befehl nicht folgte, dann ordnete er an:
„Sitzen bleiben!“
Er selbst rannte die Treppen rauf. Kurze Zeit später kam er mit zwei Taschen wieder nach unten. Jessica hörte wie die Haustür ging, dann schien es, als wäre er in der Küche. Irgendwann stand er wieder vor ihr.
„Was wird das?“ fragte sie ihn irritiert, als er sie auf seine Arme hob.
„Wart’s ab!“
Ihr fiel auf, dass er die förmliche Anrede vergessen hatte. Sein entschlossener, harter Blick sorgte dafür, dass Jessica mal wieder stumm blieb.
Ben setzte die Frau in den Pickup. Sofort nachdem er gestartet war, stellte er den Lautsprecher seines Handys ein und wählte.
„Hast du noch was rausgekriegt?“ hörten sie Rons Stimme.
„So wie’s aussieht, kennen die unser Hauptquartier.“
„Was?“ fragte Jessica erschrocken.
Sie war so überzeugt davon, hier sicher zu sein, zumindest vor den Leuten, die Anna hatten.
„Und das fällt ihr erst jetzt ein?“
„So wie’s aussieht, hat sie das noch nicht mal begriffen.“
„Ich denke, sie hat dir das erzählt?“
„Aufgeschrieben“, war Bens knappe Antwort.
„Seid ihr unterwegs?“
„Klar.“
„Sonst noch was Wichtiges?“
„Nein.“
„Kane meint, du sollst sie weiter schreiben lassen.“
Ben beendete das Gespräch.
„Wo soll ich jetzt Stift und Zettel hernehmen?“ das klang mal wieder genervt.
„Der tut’s auch“, mit den Worten griff Jessica nach dem Laptop.
Ben riss ihn ihr aus der Hand.
„Kann ja wohl nicht so schwer sein, einfach mal zu erzählen!“
„Okay, ich versuch’s.“
Jessica dachte zurück an das zweite Gespräch, das sie belauscht hatte.
„Der eine Kerl redete dann über eine Tussi in einem Nachtclub. Die schien auch für diesen Duck zu arbeiten.“
„Name?“
„Wie der Nachtclub hieß, weiß ich nicht.“
„Und die Frau?“
„Madeleine Masskowski.“
„Woher wissen Sie das jetzt so genau?“
Jessica blickte angestrengt aus dem Seitenfenster und hoffte, dass der Mann die rötliche Verfärbung in ihrem Gesicht nicht bemerkte, als sie zugab:
„Das war der Name meiner Hauptdarstellerin in meinem ersten veröffentlichten Roman.“
„Merkwürdiger Zufall“, murmelte Ben.
„Ja, genau das dachte ich auch. Noch eigenartiger war allerdings der Name, den sie später erwähnten.“
„Welcher Name und wieso?“
Als sie nicht sofort etwas erwiderte, meinte er abfällig:
„Lassen Sie mich raten: das war der männliche Hauptdarsteller in Ihrem Schundroman?“
„Nein, das nicht, aber durch ihn… ach, das ist unwichtig.“
„Was unwichtig ist und was nicht, entscheide immer noch ich! Also, wer ist der Andere?“
„Sie meinen wohl, wer war er?“
„War?“
„Der Junge ist vor einigen Jahren zum Tode verurteilt worden.“
„Was haben die über ihn geredet?“
„Ich war schockiert, als ich den zweiten bekannten Namen hörte. Da hab ich den Rest nicht mehr mitgekriegt.“
„Na klasse!“
„Irgendwann warfen die zwei ihre Kippen weg und verschwanden auf dem Polizeirevier, das war für mich der Zeitpunkt den Ort zu verlassen.“
„Das heißt, Sie wollten ursprünglich zur Polizei gehen.“
„Ja, trotz Annas Anweisung“, gab Jessica offen zu.
„Aber Sie konnten nicht. Also sind Sie dann in unser Versteck gekommen?“
„Ja.“
„Und wie haben Sie das mit der Wunde an Ihrer Stirn hingekriegt?“
„Welche Wunde?“
„Schon vergessen? Ich hab Ihnen ein Pflaster drauf geklebt.“
Unwillkürlich fuhr sie mit ihrer Hand über ihre Stirn, dort klebte tatsächlich ein Pflaster unter dem Pony.
„Wo das getrocknete Blut auf Ihrem Kleid herkam, hab ich mittlerweile rausgekriegt, aber das mit Ihrer Stirn ist mir ein Rätsel.“
„Woher wissen Sie…“
Sie konnte sich nicht erinnern, dem Mann von ihrer Wunde am Oberschenkel erzählt zu haben. Dann fiel ihr ein, wie er sich ihren Bluterguss angesehen hatte.
„Aber das konnten Sie doch gar nicht sehen, als ich auf der Couch lag!“
„Nein, aber als ich Sie aus der Wanne holte.“
Warum musste er sie daran erinnern? Das war ihr schon peinlich genug, ohne dass er es erwähnte.
„Wie ist das mit Ihrer Narbe passiert?“
Am liebsten hätte sie sich auf die Zunge gebissen. Wie konnte sie den Mann das nur fragen? Damit musste ihm klar sein, dass sie ihn sich genau angesehen hatte.
Er wusste sofort wovon Jessica sprach, das bewies seine Antwort, die eigentlich gar keine war:
„So was passiert, wenn man den Falschen vertraut.“
„Sie wurden hintergangen?“ wagte sie weiter zu forschen.
Das Handy unterbrach ihre Unterhaltung.
„Ja?“
„Was Neues?“
„Ne Menge Zufälle.“
„Ich dachte, du glaubst nicht an Zufälle?“
„Und bei euch?“
„Wir hatten gerade eine Unterhaltung mit einer gewissen Christine Geoffreys.“
„Mit wem?“ mischte Jessica sich in das Gespräch ein.
Da das Handy auf Lautsprecher geschaltet war, hatte sie jedes Wort mit angehört.
„Christine Geoffrey. Kennst du…“
„Das ist eine Falle!“ schrie die Frau aufgebracht.
„Was ist los?“ fragte Ron irritiert.
Ben hielt den Wagen und sah Jessica an.
Sie ignorierte ihn.
„Sie hat euch verraten, wo Anna ist und wie ihr die Wachen umgeht!“
„Woher weißt du…“
„Stimmt das etwa?“ unterbrach Ben seinen Kollegen.
„Ja, sie meinte, sie hätte…“
„…mit dem Alten noch eine Rechnung offen“, beendete Jessica den Satz für Ron.
„Halt an, Jake!“
„Jetzt verrat uns was das zu bedeuten hat!“ forderte Ron.
„Das ist völlig unmöglich, aber…“
„Reden Sie endlich!“ schrie Ben sie an.
„…das ist aus meinem allerersten Manuskript.“
„Wieder dieser Müll!“
„Nein, ich rede von meinem unveröffentlichten Roman, den kein Verlag haben wollte.“
„Woher kennt dann jemand die Handlung?“ wunderte sich Ron, der jedes Wort mit angehört hatte.
„Und den Namen“, ergänzte Jessica.
„Das kann auch dummer Zufall sein.“
War das Jakes Stimme im Hintergrund?
„Nicht der Erste in dieser Richtung“, wunderte sich Ben.
„Wir brechen ab!“ entschied Ron schließlich.
„Ich denke auch“, stimmte Ben zu.
„Aber wir sollten hier in der Nähe Quartier beziehen“, schlug Jake vor.
Zurück an den Ort des Geschehens? Jessica war nicht begeistert von der Idee. Zu ihrem Entsetzen war Ben einverstanden und wendete den Wagen.
Nachdenklich sah Jessica aus dem Seitenfenster.
„Ich muss doch irgendwas mit der Sache zu tun haben“, dachte sie laut.
„Was Sie nicht sagen!“
„Seien Sie endlich offen zu mir!“ forderte Ben nun versöhnlicher.
Offen? Sie hatte doch selbst keine Ahnung, was vor sich ging. Jessica fiel auf wie abschüssig es hier war, das erinnerte sie an ihren Weg in das Versteck.
„Auf dem Weg zu Ihnen war es auch so abschüssig, da bin ich so einen Abhang runtergeklettert. Zumindest hab ich’s versucht und mir dann den Oberschenkel aufgerissen.“
„Sie waren zu Fuß unterwegs?“
„Sicher, wie sonst? Ich hätte wohl kaum meine Kreditkarte nehmen können, um damit ein Taxi zu bezahlen.“
„Kein Bargeld?“
„Das war in meiner Handtasche.“
„Das erklärt warum Sie so erschöpft waren und die Wunde an Ihrer Stirn.“
„Wieso?“
„Sie müssen von Norden gekommen sein, ein langer Fußmarsch. Nach dem Abhang kommt ein dicht bewachsenes Wäldchen. War es ein Ast?“
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