"Bitte sei mir nicht böse", sagte Paul, "aber ich ..."
"Ach Du liebe Zeit, bin ich heute wieder neugierig“, unterbrach ihn Tante Emma. "Natürlich bin ich Dir nicht böse, denn es ist ganz alleine Deine Sache was Du mit dem Fleisch vor hast." Dann blickte sie sich um und verschwand hinter einem Vorhang. "Wo willst Du hin?", fragte Paul.
"Bin gleich zurück!", rief Tante Emma, und dann murmelte sie etwas, das Paul nicht verstand. Er sah auf den Vorhang und zuckte mit einem Mal zusammen. War das eben ein Blitz, den er gesehen hatte? "Tante Emma ..." ,"WUSCH!" Der Vorhang wehte zur Seite, und sie stand mit einem großen Paket vor ihm. "Es ... ist … direkt ein Wunder," ächzte sie, "dass ich so ein großes Stück Fleisch überhaupt bei mir habe." Sie wuchtete es auf die Ladentheke und schlug mit der flachen Hand drauf.
"Woher hast Du es denn?", fragte Paul überrascht und erleichtert zugleich.
"Na, na, wer wird denn gleich so neugierig sein?" Paul zog die Augenbrauen hoch, sagte aber kein Wort. "Es ist ganz frisch, habe es erst gestern am späten Nachmittag bekommen. Nur zerkleinern musst Du es selber."
"Kein Problem." Paul griff zu seinem Portmonee. "Was macht das?" Doch Tante Emma reagierte nicht und starrte an ihm vorbei zum Eingang. Unbewusst fiel sein Blick auf einen kleinen Spiegel, der hinter ihr hing und in dem er den Eingang sehen konnte. Eine dunkle Gestalt stand draußen auf der Straße, und Paul spürte, dass sie Ärger machen könnte. Unauffällig blickte er über seine Schulter zum Eingang, doch die Gestalt war plötzlich verschwunden. "Wer war das?“, fragte Paul.
"Du musst jetzt gehen", erwiderte Tante Emma, und ihre Stimme klang auf einmal seltsam fremd.
"Ist alles in Ordnung?"
"Nimm das Fleisch und geh!", wiederholte sie und starrte weiter unablässig auf die Ladentür. Paul schob sich langsam vor sie und versperrte ihr die Sicht. "Ich habe das Fleisch noch nicht bezahlt", sagte er. Tante Emma zuckte kurz, als habe sie eben mit offenen Augen geträumt. Dann zwinkerte sie und bemerkte das Portmonee in seiner Hand. "Ist schon gut, das regeln wir später."
"Und die Gestalt dort draußen?", versuchte er es noch einmal.
"Wer ...?" "Keine Fragen, hörst Du?", fiel sie ihm ins Wort. "Das geht nur mich etwas an." Sie kam hinter der Theke hervor. "Aber, Tante Emma, ich ..."
"Schluss jetzt!" Und ihre Stimme klang unmissverständlich. "Nimm endlich das Paket und geh!" Paul holte tief Luft und griff sich das Paket. Er schaute sie an und sah ein seltsames Funkeln in ihren Augen. "Komm hier entlang", sagte sie und führte ihn hinter die Theke zum Vorhang. "Es ist besser, Du verschwindest durch den Hintereingang." Sie deutete auf eine Tür. "Dort gelangst Du auf den Hinterhof."
"Bekommst Du jetzt etwa Ärger?", fragte Paul besorgt. "Nein, und jetzt lauf schon und blick nicht zurück!" Paul nickte, schulterte das Paket und rannte durch die Tür auf den Hinterhof und weiter auf die Straße. Kein Auto, keine Menschenseele war zu sehen. Nach hundert Metern blieb er stehen und verschnaufte. Er kam sich fast wie ein Dieb auf der Flucht vor. Das Fleischpaket hatte ihn ganz schön außer Atem gebracht. Er schulterte es sich noch einmal ordentlich und ging dann weiter die Straße hinunter. Ein älteres Ehepaar auf der anderen Straßenseite warf ihm einen Blick zu, und er beschleunigte seinen Gang. Jetzt musste er nur noch um die nächste Straßenecke, dann hatte er es geschafft. Mit einem Mal dachte er an den Drachen und rannte das letzte Stück. Hoffentlich kam er noch nicht zu spät. Er lief um die Ecke und starrte auf das Haus. Für einen Moment stockte ihm der Atem. War das etwa Feuer? Doch dann erkannte er, was es war. Das Licht der Sonne spiegelte sich in den Fenstern, und von Feuer und Rauch war nichts zu sehen. Erleichtert ging er auf die Haustür zu, betrat das Treppenhaus und machte sich an den Aufstieg. Seine schweren Schritte waren die einzigen Geräusche, die zu hören waren. Viele Stufen später hatte er sein Ziel erreicht. "Geschafft", stöhnte er leise, als plötzlich stimmen aus seiner Wohnung drangen. Kreidebleich starrte er auf die Tür. Hatte sein Vermieter etwa gewagt, seine Wohnung zu betreten? Zitternd zog er den Schlüssel aus seiner Hosentasche und schloss die Tür auf. Kaum hatte er die Wohnung betreten, waren auch die Stimmen verstummt. Paul schloss hinter sich die Tür und lauschte. Kein Geräusch war zu hören. Ganz vorsichtig nahm er das Paket von seiner Schulter herunter und wollte es auf den Boden setzten, als plötzlich die Stubentür aufgerissen wurde. "RUMMS!" Vor Schreck war ihm das Paket aus den Händen geglitten und auf den Boden geknallt. "Da bist Du ja endlich!", schallte ihm die Stimme des Drachen entgegen. Und noch bevor Paul sich von seinem Schreck erholen konnte, hatte sich der Drache schon auf das Fleisch gestürzt. "Was sind das für Stimmen gewesen?", fragte Paul und sah ihm dabei zu, wie er das Fleisch verschlang.
"Hhm, wasch für Schimmen?", nuschelte er schmatzend. "Die ich eben gehört hatte, als ich vor der Tür stand." Der Drache zerrte an dem Fleisch, riss ein Stück ab und schluckte es mit einem Biss hinunter. "Dasch … komische Ding...", würgte er hastig das nächste Stück hinunter, "dasch in der Schube scheht." Paul verstand kein Wort, er schüttelte verständnislos den Kopf und ging in die Stube. Es war der Fernseher, der ohne Ton eingeschaltet war. Das waren also die Stimmen gewesen. Er griff nach der Fernbedienung und schaltete ihn aus. "Und", rief Paul, "ist irgendetwas passiert, was ich wissen müsste?" Ein leises Tapsen kam vom Flur in die Stube. "Ich habe nichts in Brand gesetzt, wenn Du das meinst?"
"Und die schlechte Nachricht?", fragte Paul, weil es einfach zu schön klang, um wahr zu sein.
"Eine schlechte Nachricht?", überlegte der Drache sehr übertrieben.
"Na, los, spuck es schon aus!" Der Drache blickte ihn überrascht an. ,,Spucken? Warum soll ich spucken?"
"Ach, das ist doch nur so eine Redensart. Du sollst sagen, was passiert ist."
"Eigentlich nichts", sagte der Drache und schenkte ihm ein breites Grinsen. Doch Pauls Gesicht blieb ernst.
"Was heißt eigentlich nichts? Sag es und zwar sofort!", befahl er mit eisiger Miene. Der Drache schnaufte. "Bist Du denn nicht froh, dass ich kein Feuer gespuckt habe? Ich war nahe dran, aber ich habe durchgehalten. Und außerdem ..." Er brach ab, weil Paul keine Regung zeigte. "Also gut", sagte er und gab auf. "Dein Vermieter ist hoch gekommen und wollte unbedingt mit Dir sprechen. Zuerst hat er wie ein
Wahnsinniger geklingelt, dann wie ein Verrückter gegen die Tür gehämmert und schließlich wie ein Besessener ..."
"Schon gut", lenkte Paul ein und hob die Hand. "Aber warum hat er das getan?"
"Ich schätze mal, weil ich ihn nicht hereingelassen habe, was Du mir ja ausdrücklich verboten hattest." Paul wandte sich von ihm ab und schaute aus dem Fenster. Ein paar seltsam dunkle Wolken zogen über den tiefblauen Himmel. "Es gibt sicher gleich Regen", murmelte er. "Ist nur komisch, dass sie für das Wochenende nur Sonne vorausgesagt haben." Dann verzog sich sein Mund zu einem Grinsen, und schließlich musste er los lachen. Ihm war auf einmal alles egal. Er stellte sich vor, wie sein Vermieter oben an seiner Tür stand und mit den Fäusten gegen sie gehämmert hatte. Sicher war er wegen der Kündigung gekommen und hatte gedacht, dass er dagewesen war. Paul prustete vor Lachen und schlug sich dabei wie wild auf die Schenkel. Der Drache war verwirrt. Er wusste nicht, was er davon halten sollte und machte sich vorsichtshalber schnell unsichtbar. Nach einer Weile hatte sich Paul wieder unter Kontrolle und ließ sich erschöpft in seinen Sessel sinken. "Bist Du jetzt wieder normal?", fragte der Drache.
"Ja, ich bin wieder normal. Sag mal, wie heißt Du eigentlich?"
"Wie ich heiße?", wiederholte der Drache und wurde langsam sichtbar.
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