Irgendwann fiel er in einen tiefen, unruhigen Schlaf und wälzte sich hin und her. Ihm war, als hörte er ein Geräusch, und es klang als käme es direkt aus der Küche. Vermutlich war das Biest jetzt dort. Er stand auf und verließ lautlos das Zimmer. An der Küchentür blieb er stehen und lauschte. Irgendetwas schleifte auf dem Fußboden entlang. Mit äußerster Vorsicht blickte er um die Ecke und erschrak. An seinem Herd stand eine von Würmern zerfressene alte Mumie und kochte eine Schlangensuppe. Fast zu Tode erschreckt stieß Paul einen Schrei aus und wachte auf."Es war nur ein dummer Albtraum, ein Albtraum", sagte er immer wieder und setzte sich schwer atmend in seinem Bett auf. Erleichtert wanderte sein Blick zum Fenster. Über den Dächern ging schon die Sonne auf. "RUMMS! SCHEPPER! KNALL!", drang es plötzlich durch die Wohnung, und dieses Mal war es kein Traum. "Verdammtes Biest", fuhr Paul entsetzt zusammen, "es verwüstet noch meine ganze Wohnung." Mit einem Satz war er aus dem Bett, schlüpfte in seine Hausschuhe, setzte sich die Brille auf und war schon fast an der Tür, als er den Baseballschläger sah. "Nur für den äußersten Notfall", murmelte er, schnappte ihn sich und verließ das Zimmer. Einen Moment lang war alles still. Dann drang ein unüberhörbares Schnalzen, Schmatzen und Kratzen aus der Küche. Paul schlich bis zur Küchentür, die er besser gestern geschlossen hätte. Er verharrte kurz, holte tief Luft und stellte sich entschlossen mit erhobenem Baseballschläger in die Tür. Eine Welle aus Wut, Hass und Zorn überkam ihn. Seine Küche war ein Ort der Verwüstung. Als hätte eine Bombe eingeschlagen. Tisch und Stühle waren umgekippt und bildeten eine Barriere vor ihm. Der Fußboden war von den Scherben seiner Lieblingstasse übersät. Seine Ex-Freundin Sam hatte sie ihm zum Geburtstag geschenkt. Ironischerweise war "Für immer Dein" auf ihr zu lesen gewesen. Paul schüttelte den Kopf, er hatte gestern vergessen, den Tisch abzuräumen. Mit einem Brummen ignorierte er die Sauerei auf dem Boden und setzte einen Fuß in die Küche. Es knirschte unter seinem Hausschuh, als er in eine Kaffeepfütze trat. Doch das störte ihn nicht, genauso wenig wie die Butter, die am Kühlschrank klebte. Paul ging langsam weiter auf den Tisch zu. Dann blieb er stehen, schob die beiden Stühle beiseite und sah hinter den Tisch. Was immer er geglaubt oder gehofft hatte, dort vorzufinden: Er wurde enttäuscht. Seine Augen starrten auf einen Haufen von Bananen-und Apfelschalen, zerquetschten Tomaten und Mohrrüben. Aber ein Tier befand sich dort nicht. Langsam ließ er den Baseballschläger sinken und sah auf die Scheibe Brot die er gestern nicht aufgegessen hatte. Sie lag ausgespuckt zwischen den Apfelschalen. Nur von der Salami und dem Käse fehlte jede Spur. Noch während er anfing, die Küche aufzuräumen, kam ihn eine Idee. Sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen, als er die letzten Scherben auffegte und daran dachte, was er vorhatte. Schließlich wandte er sich zum Kühlschrank und öffnete ihn. Seine Hand griff zu dem Käse und den letzten Scheiben Salami. Er wollte den Kühlschrank schon schließen, als er den extra-scharfen Löwensenf sah.Vielleicht konnte er dem Biest damit eine Falle stellen. Er schloss den Kühlschrank, schnitt die Wurst und den Käse in kleine Stücke und verteilte sie in der Wohnung. Die Köder für die Bestie waren also ausgelegt. Paul blickte noch einmal auf die Spur, die er vom Flur bis in die Stube gelegt hatte. Dann zog er sich in sein Zimmer zurück und versuchte, sich in seine Bücher zu vertiefen. Nach einer Weile hob er den Kopf und überlegte. Was wäre, wenn das Tier einen sehr empfindlichen Magen hätte? Energisch schüttelte er Kopf. Und wenn schon, schließlich hatte es ja auch seinen Benjamini-Baum halb aufgefressen. Er las weiter. "Nein", seufzte er, so ein gemeiner Kerl war er nicht. Er schlug das Buch zu. Das mit dem extra-scharfen Löwensenf ging eindeutig zu weit. Dabei hatte ihn Paul nur zufällig im Kühlschrank, weil er sich im Regal vergriffen hatte. Er stand gerade von seinem Stuhl auf, als er ein seltsames Geräusch auf dem Flur hörte. Eilig ging er zur Tür und riss sie auf. Hoffentlich war es noch nicht zu spät. Sein Blick fiel auf den Boden. Es war zu spät, der Köder auf dem Flur war bereits verschwunden und mit ihm der Senf. "Oh verdammt!", stieß er aus und rannte auf die Stube zu. "FLATSCH! RUMMS!" Kurz vor der Tür war Paul auf einem Stück Käse ausgerutscht, das er ausgelegt hatte. "AU!" Hastig wirbelte er mit Händen und Füßen herum, damit er schnell wieder auf die Beine kam. Er spürte etwas und packte blindlings zu. Doch da war nichts, was er festhielt. Er starrte auf seine Hände, als es plötzlich geschah: Wie aus dem Nichts tauchte auf einmal etwas Grünes, Langes zwischen seinen Fingern auf. Und es sah aus wie eine Schlange. Wenn er jetzt los ließ, würde sie ihn sicher beißen. In Todesangst schaffte er es endlich wieder auf die Beine zu kommen. Paul schüttelte den Kopf. Das konnte unmöglich eine Schlange sein. Er starrte auf das Ding, das an statt länger nun größer und breiter wurde. Es bekam kleine, dicke Pranken sowie kleine, grüne Höcker auf seinem Rücken. Paul traute seinen Augen kaum. Doch es bestand kein Zweifel, die Kreatur, die jetzt ihren Kopf zu ihm wandte und ihn anfauchte, war ein kleiner, grüner Drache. Sofort ließ Paul vor Schreck seinen Schwanz los. Die Augen des Drachen funkelten, und aus seinen Nüstern stiegen kleine Rauchwölkchen auf, als er zu Paul hinaufsah. Dann öffnete er sein Maul, und zu Pauls Überraschung fing er an zu sprechen: "Zieh mir ja nicht nochmal am Schwanz, verstanden?" Er schnaubte, drehte sich um und tappte den Flur entlang Richtung Küche. Einen Moment lang starrte ihm Paul nach, wie er in der Küche verschwand. Dann folgte er ihm. "Du willst mir also allen Ernstes einreden, dass Du ein sprechender Drache bist?", sagte er und stellte sich in die Küchentür. Der Drache, der gerade seinen Kopf im Abfalleimer stecken hatte und nach Essbarem schnüffelte, brummte irgendetwas Unverständliches, bevor er wieder zum Vorschein kam. "Ich", schmatzte er und kaute auf einer Apfelschale herum, "will Dir überhaupt nichts einreden." Er spuckte die Apfelschale im hohen Bogen gegen die Küchentür. "Aber ja, ich bin ein sprechender Drache, wenn Du das meinst?", sagte er und schnüffelte weiter durch die Küche, bis er schließlich vor Paul stehen blieb. "Also machen wir es kurz, ich habe Hunger."
"Dann solltest Du dahin gehen, wo Du etwas bekommst." Damit ließ er ihn stehen und ging in die Stube.
"He, so behandelt man aber keinen Gast!", rief er und trabte hinter ihm her.
"Ich habe mich wohl verhört", wirbelte Paul wütend herum, "Du bist kein Gast." Der Drache knurrte und stieß ihm eine schwarze Rauchwolke ins Gesicht. "Kein Gast, meinst Du?", fauchte er, während Paul husten musste. "Mal überlegen", schnaufte der Drache weiter: "Wer hat mich denn wohl in dieser engen Kiste hierher geschleppt?" Paul hustete immer noch und war dabei, das Fenster zu öffnen. "D... du, wa... warst, nie... niemals in dieser verdammten Kiste", prustete er und riss das Fenster auf. Der Drache sah auf die Überreste der Kiste, die immer noch in der Stube herumlagen. "Ich weiß nicht, wie Du hier herein gekommen bist", sagte Paul, der wieder zu Atem gekommen war. "Vielleicht bist Du ja einfach durch das Fenster hereingeflogen." In dem Moment stieß der Drache einen erbärmlichen Schrei aus, der Paul durch Mark und Bein fuhr. "Ich soll geflogen sein?", brüllte der Drache und seine Augen glühten vor Wut. "Nennst Du das etwa Flügel?", zischte er und breitete etwas auf seinem Rücken aus, das nur mit viel Fantasie an Flügel erinnerte.
"Nein", sagte Paul verlegen. "Das nenn ich ganz sicher nicht Flügel. Und trotzdem - in der Kiste kannst Du unmöglich gewesen sein."
"Heute würde ich nicht mehr hineinpassen", brummte der Drache leise, "aber gestern schon."
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