1 ...6 7 8 10 11 12 ...17 „Mariele!“
Agnes panischer Schrei war das Letzte, was Mariele hörte. Dann schwappte eine Welle unsäglichen Schmerzes über sie hinweg und löschte jegliches Denken in ihrem Kopf aus. Ehe ihr Körper zu Boden sackte war Agnes bei ihr. Ihr eigener Arm umfasste Marieles Taille. Den Arm der Freundin zog sie über ihre Schultern. Dann schleppte sie die Verletzte zum nahe gelegenen Eingang der St. Anthony Church. Die große hölzerne Tür war zurück versetzt. So waren die Frauen vor dem vorüber stürmenden Mob wenigstens notdürftig geschützt. Vorsichtig ließ Agnes ihre Freundin auf die Stufen der Kirche sinken und lehnte sie mit dem Rücken an die Tür.
„Mariele! Mariele! Bitte sag doch was!“, flehte Agnes.
Sie riss sich ihr dickes Umhängetuch von der Schulter und drückte es mit aller Kraft auf die riesige Wunde in Marieles Bauch. Unablässig pulsierte Blut in beängstigenden Stößen heraus. In kürzester Zeit war das Tuch rot durchtränkt.
„Hilfe! Hilfe!“, schrie sie aus Leibeskräften. Aber die wütende, aufgestachelte Menge achtete nicht auf sie, sondern schob sich unaufhaltsam weiter.
„Bitte! So helft uns doch!“ Wieder und wieder tönten ihre verzweifelten Rufe durch die nun vollkommen verlassen da liegende Anthony Street.
„Mariele! Mariele! Hörst du mich? Nicht aufgeben!“
Marieles Atem ging so flach, dass sich ihr Brustkorb kaum noch hob. Angstvoll beugte Agnes sich über den leicht geöffneten Mund der Freundin. Ganz zart spürte sie den Hauch auf ihrer Wange. Noch war sie am Leben. Agnes hämmerte mit der Faust an die Kirchentür.
„Hilfe! Hilfe! Bitte, in Gottes Namen! Wir brauchen Hilfe!“, schrie sie ihre ganze Verzweiflung in die Dunkelheit hinaus.
„Agnes!“ Das Flüstern war so leise, dass Agnes es beinahe überhört hätte.
„Ich bin hier, Liebes.“ Zärtlich streichelte sie Marieles eiskalte Wange.
Die Lippen bewegten sich. Agnes hielt ihr Ohr direkt an den Mund. „Du…musst…hier…raus.“ Die Worte waren kaum zu verstehen.
„Schscht. Nicht reden. Du darfst dich nicht anstrengen“, sagte Agnes. Tränen rannen über ihre Wangen. Sie tropften auf Marieles Gesicht. „Das…spielt…jetzt…keine…Rolle…mehr…mit…mir…ist…es…vorbei.“
Die Pausen zwischen den Worten wurden immer länger.
„Was redest du denn da? Du wirst wieder gesund und wir werden beide diese Hölle hier hinter uns lassen.“
„Versprich…mir…“
„Alles, Mariele! Ich verspreche dir was du willst. Aber du musst durchhalten! Du darfst nicht aufgeben!“, bettelte Agnes.
„Du…musst…das…Glück…festhalten…wenn…es…dir…begegnet.“
Ein qualvolles Stöhnen entrang sich ihrer Kehle, als der Schmerz wieder wie ein feuriges Messer durch ihren Leib jagte. Nur noch ein leises Röcheln war zu hören.
„Mariele, bitte lass mich nicht allein! Was soll ich denn ohne dich nur anfangen?“, schluchzte Agnes.
Ihre Lider zitterten, als Mariele unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte die Augen öffnete. „Du…musst…für…mich…mit…glücklich…werden.“
Ein dünner Blutfaden sickerte aus dem Mundwinkel, als sich Marieles Lippen zu einem letzten leisen Lächeln verzogen.
Mariele Leschinger aus Deschenitz im Böhmerwald war tot. Gestorben auf dem Pflaster einer dreckigen Straße in den Five Points in New York.
Agnes kniete neben dem Körper ihrer Freundin. Ihre blutverschmierten Hände im Schoß gefaltet. Unablässig liefen Tränen über ihre Wangen. Mit versteinerter Miene starrte sie in Marieles tote Augen. Sie nahm nichts von dem wahr, was um sie herum passierte. Weder registrierte sie, dass die Kirchentür aufgerissen wurde, noch dass ein Priester heraustrat und sich sofort über Mariele beugte. Father Gegory O’Byrne musste Agnes mehrfach an der Schulter rütteln, ehe sie den Kopf hob und ihn aus leeren Augen heraus verständnislos anstarrte.
„Was ist passiert?“, wollte er wissen. Er erhielt keine Antwort.
Agnes wendete ihren Blick ab und sah wieder auf Marieles nun so ruhiges Gesicht. Da hob Father Gregory das einfache Kreuz, das an einer langen Kette an seiner Brust baumelte. Leise murmelte er die Sterbegebete der Kirche. Als er begann das Vater Unser zu beten, erwachte Agnes aus ihrer Erstarrung. Erstaunt sah sie erst den Priester an, dann wieder Mariele. Schließlich betete sie mit. Zuerst mit kaum vernehmbarer Stimme, dann immer lauter. Father Gregory wollte gerade das Ave Maria beginnen. Da legte ihm Agnes die Hand auf die Schulter und schüttelte den Kopf. Ganz langsam, wie eine uralte Frau, rappelte sie sich auf, stellte sich vor Mariele hin und stimmte das ‚ Hail Mary‘ an, das die irischen Frauen, die mit ihr in der Wäscherei arbeiteten, immer während der Arbeit sangen. Am Anfang klang es dünn und unsicher. Aber nach und nach wurde ihre Stimme fester und lauter. Schließlich hallte das Lied zur Ehre der Gottesmutter durch die ganze Straßenschlucht, so wie vorher das Gebrüll der kämpfenden Banden.
Father Gregory wartete bis das letzte Amen zwischen den Häusern verhallt war, dann fragte er Agnes noch einmal: „Was ist passiert?“
Ihren Blick starr auf Marieles leblosen Körper gerichtet, erzählte sie ihm, was geschehen war. Aufmerksam hörte er zu.
Als sie fertig war, sah sie ihn flehend an. „Was soll ich denn jetzt machen? Ich kann sie doch nicht hier liegen lassen.“
„Das musst du auch nicht“, sagte er. „Halte mir die Tür auf. Ich werde sie in die Kirche bringen.“
Father Gregory bückte sich und nahm Mariele auf die Arme. Agnes schob das schwere Kirchenportal auf. Sie ließ den Priester mit seiner Last passieren. Dann folgte sie ihm in das Gotteshaus. Vorsichtig legte Father Gregory die tote Frau auf die Altarstufen. Er holte Zündhölzer aus der Tasche seiner Soutane und zündete die Kerzen am Hochaltar an. Agnes kniete sich neben ihre tote Freundin, strich ihr die Haare aus dem Gesicht, richtete ihren Rock und faltete ihre Hände.
„Können Sie mir helfen sie ordentlich zu begraben, Father?“ Fragend sah sie den Priester an.
Father Gregory schenkte der unglücklichen Frau, die vor ihm auf dem Steinboden kauerte, ein mitfühlendes Lächeln. „Ich nehme an, dass deine Freundin getauft ist.“
Als Agnes nickte, fuhr er fort: „Zur Kirche gehört ein kleiner Gottesacker. Dort könnten wir sie beerdigen. Hast du Geld?“
„Wie viel wird es denn kosten?“
„Zwei Männer aus meiner Gemeinde würden für fünfzig Cent das Grab ausheben. Einen einfachen Sarg und ein hölzernes Kreuz bekomme ich für zwei Dollar. Hast du so viel?“
„Ja. Seit wir hier sind haben Mariele und ich jeden Cent gespart, den wir übrig hatten.“
„Du hast gesagt, dass ihr vom Hotel Rosaria gekommen seid. Arbeitest du dort?“
Agnes nickte.
„Aha“, brummte Father Gregory. Röte schoss Agnes ins Gesicht.
„Nicht was Sie denken, Father“, stammelte sie. „Mariele steht…ich meine sie stand hinter der Bar. Ich arbeite als Kellnerin. Wir verkaufen Getränke, nicht unseren Körper. Ich kann die Beerdigung mit ehrlich verdientem Geld bezahlen.“
Flammender Zorn kochte in Father Gregorys aufbrausender irischer Seele hoch. Zorn auf die rivalisierenden Banden und ihre Anführer. Zorn auf den korrupten Stadtrat, der ihrem Treiben keinen Einhalt gebot. Zorn auf den ganzen verkommenen Moloch New York, der arme Frauen in die Fänge von skrupellosen Geschäftemachern wie Rosaria Tonelli trieb.
„Du musst dich vor mir nicht rechtfertigen. Ich weiß, wie es draußen zugeht. Korruption, Gewalt und Ausbeutung sind die drei Gottheiten, denen in diesem neuen Sodom gehuldigt wird. Und wenn ihr Beide es trotzdem geschafft habt ehrbar zu bleiben, ist das mehr, als man von den Meisten sagen kann.“
„Sie sehen ja, was Mariele ihre Ehrbarkeit eingebracht hat. La Rosarias Freudenmädchen mussten an so einem Abend das sichere Hotel nicht verlassen. Sie wurden nicht auf die Straße geschickt und die Tür hinter ihnen verriegelt. Sie liegen jetzt sicher und warm in ihren Betten. Nicht tot auf den kalten Steinen. Mariele war anständig bis zu ihrem letzten Atemzug. Trotzdem hat ER sie sterben lassen.“
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