„Sehr gut mia Bella!“ Anerkennend nickte sie Agnes zu. „Jetzt geh nach oben. Trixie in Séparée vier hat schon zweimal gewunken. Und vergiss das Bier nicht für Nummer sieben.“
Agnes nickte kurz, schnappte sich das Tablett, das La Rosaria schon mit Bierkrügen und Whiskeygläsern beladen hatte und schob sich zwischen den lachenden und trinkenden Männern hindurch zur Treppe. Die Hände, die sich Gläser vom Tablett stibitzen wollten, wehrte sie geschickt ab. Vergnügt lachend versprach sie, unverzüglich wieder vorbei zu kommen und den ach so großen Durst der Männer zu stillen. Bei jedem Schritt wurde ihr von irgendjemandem auf den Hintern geklatscht, so dass sie Mühe hatte nichts zu verschütten. Bekäme sie für jeden Klaps auf den Hintern einen Dollar, würde sie heute Abend ein kleines Vermögen verdienen.
Als sie kurz vor ein Uhr morgens in La Rosarias Büro ihren Lohn abholte, zählte die Bordellwirtin fünfundzwanzig Dollar auf den Tisch. Die Hälfte des Trinkgeldes das Agnes bekommen hatte. Noch nie zuvor hatte sie an einem einzigen Abend so viel verdient.
„Keinen Tropfen verschüttet und kein Glas zerbrochen. Der Umsatz in den Séparées war auch ungewöhnlich hoch. Das hast du sehr gut gemacht.“
Ein Lob aus dem Mund der Puffmutter war etwas überaus Seltenes und deshalb umso höher zu bewerten.
„Es freut mich Ma’am, dass Sie mit meiner Arbeit zufrieden sind“, sagte Agnes. Sie war zum Umfallen müde, spürte kaum noch ihre Beine. Aber dieses unerwartete Lob zauberte dennoch ein dankbares Lächeln auf ihr Gesicht.
„Gute Nacht Ma’am.“
Ein kurzes Nicken war die einzige Reaktion. Dann beugte sich Rosaria Tonelli wieder über ihr Abrechnungsbuch.
„Weißt du, was heute für ein Tag ist?“, fragte Mariele.
„Natürlich. Wie könnte ich den Tag jemals vergessen“, antwortete Agnes. „Vor einem Jahr sind wir mit der Atlantica in Hamburg los gefahren.“
„Unfassbar, dass es erst ein Jahr her ist. Mir kommt es vor wie eine Ewigkeit.“ Versonnen sah Mariele auf den Tresen. Mit dem Finger fuhr sie die Maserung des Holzes nach.
Agnes nickte. „Was hatten wir doch für hochfahrende Pläne, was für herrliche Träume! Zum Glück hatten wir keine Ahnung was uns erwartet. Ich bezweifle, dass ich mich auch nur einen Schritt weit vom Klausner-Hof entfernt hätte, wenn ich gewusst hätte, wie es hier ist.“
„Hast du es schon oft bereut, dass du mitgekommen bist?“ Fragend sah Mariele sie an.
Agnes schüttelte den Kopf. „Nein! Nicht einen Moment. Auch wenn das Leben hier die Hölle ist. Aber wenigstens habe ich immer noch die Hoffnung, dass es irgendwann anders werden wird. Dass es uns gelingen wird, aus diesem Elend heraus zu kommen und unser Glück zu machen. Der Hölle, die mir der Klausner-Bauer bereitet hätte, wäre ich niemals entkommen.“
Agnes stand neben Mariele hinter der Bar und polierte Gläser. Obwohl es schon acht Uhr war, war der Salon immer noch menschenleer. Solange sie im Hotel Rosaria arbeiteten hatte es das noch nie gegeben.
„Ich möchte wissen, was heute los ist. Wo stecken sie denn alle? Hast du etwas gehört?“ Für Mariele standen immer die praktischen Dinge im Vordergrund. Nie hing sie lange Zeit irgendwelchen trübseligen Gedanken nach. Sie lebte stets im Hier und Jetzt.
Agnes schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung. In Chinatown habe ich nichts gemerkt. Aber schon auf dem Weg hierher ist mir aufgefallen, dass kaum Menschen auf der Straße sind.“
„Schließt die Fensterläden und verbarrikadiert die Tür!“
La Rosaria stand oben auf der Galerie. Ihre Hände umklammerten das Geländer. Selbst die üppig aufgetragene Schminke konnte die fahle Blässe ihres Gesichtes nicht verbergen. Die Stimme der sonst so souveränen und beherrschten Frau zitterte. Die beiden Aufpasser, die trotz der fehlenden Kundschaft links und rechts neben der Eingangstür standen, gehorchten umgehend.
La Rosaria sah die beiden Frauen hinter der Bar an. „Ihr verschwindet auf der Stelle. Seht zu, dass ihr so schnell wie möglich nach Hause kommt.“
Der Befehl war klar und unmissverständlich. Als Agnes Anstalten machte noch die restlichen Gläser zu polieren, kam unverzüglich die Anweisung von oben:
„Lass die Gläser stehen. Geht nach Hause, ehe es zu spät ist!“
Das ließen sich Agnes und Mariele nicht zweimal sagen. Fluchtartig verließen sie den Salon. In Windeseile zogen sie sich um und verschwanden durch die Hintertür. Kaum waren sie draußen, wurde von innen auch schon der Riegel vorgeschoben. Arm in Arm eilten sie die enge Gasse entlang. Das schmierige Kopfsteinpflaster war von Unrat übersät. Als sie in die Mulberry Street einbogen, blieb Agnes abrupt stehen.
„Hörst du das?“, fragte sie atemlos.
Lauschend hob Mariele den Kopf. Geschrei und Schüsse waren in der Ferne zu hören.
„Das kommt aus der Anthony Street“, sagte Mariele. „Komm, lass uns nachschauen, was da los ist.“
„Bist du verrückt? Hast du nicht La Rosaria gehört? Wir sollen schleunigst nach Hause gehen.“
„Ich will ja nur mal kurz gucken. Wenn sich die Männer morgen Abend darüber unterhalten was passiert ist, muss ich doch mitreden können.“
Mariele ließ den Arm ihrer Freundin los und ehe Agnes auch nur einen weiteren Widerspruch anbringen konnte, war sie schon in Richtung Anthony Street unterwegs. Agnes blieb nichts anderes übrig, als ihr durch das Gassengewirr zu folgen. Je näher sie der Straße kamen, desto lauter wurde der Tumult. Als sie aus einer dreckigen Gasse heraus in die Anthony Street einbogen, blieben sie wie angewurzelt stehen. Von beiden Seiten näherte sich eine grölende Menge. Linkerhand waren wilde italienische Flüche und Beschimpfungen zu hören. Von rechts ertönte aus dutzenden irischer Kehlen der grausige Schlachtruf der Whyos: „Kill ´em! Kill ´em!“
Die Italiener waren in der Überzahl. Aber sie waren nur mit Knüppeln, Holzlatten und Äxten bewaffnet, während die Iren Pistolen und abgesägte Schrotflinten dabei hatten. Unaufhaltsam rückten die Whyos vor.
„Kill ´em! Kill ´em!“, ertönte es jetzt in unmittelbarer Nähe der beiden Frauen. Verzweifelt versuchte Agnes ihre Freundin zurück in die Gasse zu zerren. Aber Mariele wand sich aus ihrem Griff. Die Neugier war stärker als die Vernunft. Mit angehaltenem Atem stand sie an die Mauer des Eckhauses gepresst und verfolgte fasziniert, wie die aufgebrachten Männer auf einander los gingen.
Laut brüllend, ihre behelfsmäßigen Waffen schwingend stürmten die italienischen Bandenmitglieder wie wild gewordene Stiere auf ihre Gegner los. Die Iren wichen keinen Millimeter zurück. Als die Männer der Five Points Gang nur noch fünf Meter von der ersten Reihe der Whyos entfernt waren, hoben diese ihre Waffen und feuerten. Wie das Donnern von Kanonen hallte das Krachen der Schüsse durch die enge Straßenschlucht der Anthony Street. Grenzenlose Panik erfasste Agnes. Wieder versuchte sie Mariele mit Gewalt in den Schutz der Gasse zu zerren. Aber ihre Freundin stand wie versteinert und starrte mit weit aufgerissen Augen auf die blutüberströmten Körper der niedergemetzelten Italiener. Gestern erst hatte sie mit einigen von ihnen an der Bar geschäkert. Jetzt lagen sie mit grotesk verzerrten Gliedern auf dem schmutzigen Pflaster.
Plötzlich kam es Mariele so vor, als würden sich die Ereignisse vor ihren Augen unnatürlich verlangsamen. Mit erschreckender Klarheit beobachtete sie, wie einer der Iren seine Schrotflinte hob und auf einen anstürmenden Italiener zielte. Dieser schwang seine Axt und schlug damit den Lauf der Flinte zur Seite. In diesem Augenblick drückte der Mann den Abzug. Mariele sah Mündungsfeuer im Lauf aufblitzen und eine kleine Rauchwolke aufsteigen. Dann traf sie die volle Wucht der Schrotladung in den Bauch und schleuderte sie zwei Meter rückwärts an die Hauswand.
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