Die Stunden krochen dahin, sie schien zu schlafen, oder zu dösen, scheinbar lief Musik über ihren Discman, wie ein Uhrwerk wendete sie sich jede halbe Stunde und immer wieder deutete sie Bewegungen an, die ihn darauf hoffen ließen, dass sie ihr Bikini-Oberteil ablegen würde, was nie geschah. Irgendwann stand sie scheinbar grundlos auf und verließ die Terrasse, die Sonne schien noch, aber wahrscheinlich nicht mehr lange genug. Es war bereits Abend, wobei er bemerkte, Hunger zu haben. Seine Familie war nicht da, er hatte vergessen, wohin sie gegangen waren, sein Bruder wahrscheinlich ins Freibad.
Wenig später saß er vor seinem Computer. Freitag Abend begann und er würde nicht irgendwo trinken. Es war ihm verboten bis er seinen sechzehnten Geburtstag erreichte, was glücklicherweise in ein paar Tagen war. Jedoch konfrontierte ihn das mit der Angst, mit wem er dann eigentlich würde weggehen können. Lichter eines Videospiels vermischten sich mit dem tiefen Orange eines lange anhaltenden Sonnenuntergangs, dessen Strahlen sich über dutzende zerpflückter Wolken verteilten. Das Virtuelle vermischte sich in seinem Gesicht mit dem Analogen, gebrochen in blicklosen Augen, die gebannt den Bewegungen auf dem Monitor folgten. Auf der Straße lachten Kinder, zusammen mit dem letzten warmen Wind des Abends durch das geöffnete Fenster zu ihm durchdringend. In Gedanken vertrieb er die Möglichkeit spontan doch zur Stufenparty zu gehen, mit der Ausrede, nicht einmal zu wissen, wie er dahin kommen sollte, da er in diesem Dorf feststeckte.
Ungewollt kam ihm die Geschichte seiner Mutter in den Sinn, in welcher sie von ihrer letzten Schulparty erzählte, bei der angeblich alle so betrunken gewesen waren, dass ein Teil in der Hütte randaliert hatte, Stühle zerschlagen, und überall hin gekotzt hatte, sodass sie und ein paar Freundinnen von ihr – es fiel ihm schwer, seine Mutter mit Freundinnen vorzustellen – die Überreste am nächsten Morgen aufräumen und saubermachen durften. Hätte er damals gewusst, dass er seine Abiturfeier im vollkommen betrunkenen Zustand, auf der verzweifelten Suche nach dem Rückweg zur Party, in einer Dorfkirche schlafen würde, hätte er nur müde darüber lachen können. So war es zwar keine gute Begründung, aber vielleicht eine willkommene Ausrede, daheim zu bleiben und zu zocken. Als Entschädigung und unter Einforderung des Versprechens, er würde sich nicht selbstständig auf den Weg zur Party machen, hatte sie ihm ein Spiel gekauft, dem er sich nun widmete. Als ob er den Mut gefunden hätte, sich ohne diesem über das Verbot hinweg zu setzen.
Hatte er eigentlich jemals gegen ein Verbot verstoßen? Jenseits der FSK wohl kaum.
Vieles machte er falsch, war wahrscheinlich verwerflich und hätte seine Mutter verzweifeln lassen – seine Existenz als nachmittäglicher war Voyeur wahrscheinlich nicht einmal am schlimmsten – doch tat er all diese Dinge in der Einsamkeit des Geheimnisses, in welchem sie zumindest noch Bedeutung zu haben schienen.
Schon früh hatte er gelernt viele Dinge geheim zu halten, sie nur mit sich auszumachen. Menschen zu meiden und sie von seinem Inneren fernzuhalten hatte zudem den angenehmen Nebeneffekt, in Besitz eines Wissens zu sein, welches dem Zugriff anderer entzogen war, ihm ein Alleinstellungsmerkmal, eine Besonderheit gebend, die er sonst niemals würde erreichen können. Das andere davon nichts wahrnahmen, nichts wahrnehmen konnten, verstärkte nur seine isolationistischen Tendenzen. Es war zumindest eine Form von Freiheit.
Sein Blick wanderte durch die verschmierten Fensterscheiben auf die leere Straße vor dem Haus. Der Bürgersteig ging nahtlos in den Asphalt über, dessen Wärme er bis in das Zimmer zu spüren glaubte. Vögel und Insekten schufen eine tranceartige Soundkulisse, die nicht einmal von den selten vorbeifahrenden Autos gestört wurde. Menschen sah er keine, gab es nicht, die Sonne ging langsam unter, aber bis zur Nacht würde es noch lange dauern. Wie wohltuend ein wenig Regen sein würde. Keine Wolke war mehr am Himmel. Aufgelöst unter den orangeroten Strahlen des Sommers.
Dann war der Ladebildschirm des Spiels vorbei und es konnte weitergehen, die Blicke fest auf den Monitor fixiert, wo seine Kugeln Dutzende töteten, sein Alter-Ego sich durch die Straßen eines Dritte Welt Landes schlachtete, die schwarzen Körper um ihn herum zum erliegen kamen. Der Abend brach herein, der Sonnenuntergang verschwand und irgendwann auch ihr Licht, nur gelegentlich, seltener mit zunehmender Dunkelheit, verließen Blicke oder Gedanken das kleine Zimmer, in dem es immer nach Katzenpisse roch, manchmal mehr, manchmal weniger. Niemand ging der Straße entlang, kaum ein Auto fuhr vorbei.
Umso stärker drangen die laut hallenden Schritte in seine Wahrnehmung, als sie sich selbstbewusst seinem Elternhaus näherten. Schnell positionierte er sich nahe des Fensters, froh, kein Licht eingeschaltet zu haben, da man ihn auf diese Weise nicht so schnell sehen konnte. Das Klacken konnte nur von hochhackigen Schuhen kommen und die Uhrzeit ließ nicht unbedingt vermuten, dass es eine alte Frau sein würde. Als dann aber die namenlose Nachbarin, mit ebensolchen Schuhen, einem Minirock, der noch die Ansätze ihres Hinterns darunter hervor blicken ließ, sowie einem bauchfreien Top und stark geschminkt, die Straße hinauf stolzierte – vielleicht etwas übertrieben, in Anbetracht ihrer offensichtlichen Schwierigkeiten mit solchen Schuhen zu gehen – schoss ihm zugleich das Blut in sein Glied, die Hände an seine Brustwarzen, sowie das Gefühl zurückgelassen zu werden in den Verstand. Ihr Hintern bewegte sich halbwegs rhythmisch und provokant platziert bei jedem Schritt in die eine, dann die andere Richtung, einem trashigen Hollywood-B-Movie entsprechend, so wie sie es alle gelernt hatten, um dann seinen Blicken zu entschwinden. Müde und erregt blickte er an sich herab, bald sechzehn Jahre alt, an einem Freitag Abend. Zum Glück würde es sich bald ändern, dachte er bei sich, verwundert, dass ihn das dreizehn- oder vierzehnjährige Nachbarmädchen bereits übertroffen hatte, mit der angstvollen Frage begleitet, wer sich diese Nacht mit ihr amüsieren würde, während er schwarzen Bürgerkriegern Kugeln in den Kopf jagte.
Leise fluchte er, als er sich beim Hinsetzen seinen halb harten Schwanz an der Tischkante anschlug.
Dutzende Menschen vor dem Lageso, hunderte, gefühlte tausende, durcheinander geschrienes Arabisch, Helfer, auf verzweifelter Suche nach Ordnung, gegen das Chaos in welchem sie sich allein gelassen fühlen mussten. Gerüchte von salafistischen Rekrutierern auf Beutefang unter wahlweise traumatisierten oder frustrierten Jugendlichen. Berichte über entführte und missbrauchte und ermordete Flüchtlingskinder, von Geisteskranken und Triebtätern gestohlen aus der chaotischen Masse, welche die Stadt scheinbar aufgegeben hatte, verwalten zu können. Tränen in den Gesichtern aller und Diebstähle zwischen und an den Ärmsten. Überreste einer Aufnahmeeuphorie, welche vor einigen Wochen viele mobilisierte und nun die wenigsten erschöpft zurückließ, um die langfristige Arbeit zu übernehmen. Ein Sommermärchen, welches wie immer mit dem Ende des Sommers aufhörte, den letzten Idealisten ein solches Übermaß an Arbeit hinterlassend, dass alle wussten, es würde nicht funktionieren, oder zumindest nicht schnell oder lange genug. Retten machte nur Spaß, wenn man schöne Bilder der eigenen Heldentaten sehen konnte. Nun froren die Menschen in langen Schlangen, geflohen aus Eritrea, Syrien, Irak, Afghanistan, Pakistan, zitternd in den langsam zugefrorenen, vor Eis glänzenden Straßen Berlins, wo sie sich zuvor Hoffnung versprachen, aber nur Langeweile, Untätigkeit und weitere Überlebensangst auf sie wartete, die Unsicherheit zum Dauerzustand gefrierend, nur noch darauf bedacht, den nächsten Tag zu überleben, während ihre Familien auf gute Nachrichten hofften, vielleicht auch auf etwas Geld, und sei es, um ebenfalls die beschwerliche Reise anzutreten.
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