Kein Danke, er wollte mehr. Er ignorierte ihn, der Gestank wurde schlimmer, jedes Mal, wenn er den Mund öffnete. Die Fäulnis verwesender Zähne schlang sich um seine Atemwege. Der Bus näherte sich, der Mann fragte ein weiteres Mal, mehr Gestank, Übelkeit, sein Gesicht wurde rot, oder zumindest fühlte es sich so an, während er den Mann ignorierte, so tat, als würde er ihn nicht mehr wahrnehmen. Ob andere ihn beobachteten? „Vielleicht ne Kippe?“, als sich endlich die Türen öffneten und ihm die Flucht ermöglichten.
Während der Fahrt versuchte er in seiner Fensterscheibenreflexion auszumachen, ob die plötzliche, in seinem Körper einsetzende Hitze, wieder zu dem Ausschlag um seinen Mundraum geführt hatte, da sich ein wachsender Juckreiz bemerkbar machte und er nur mit Mühe verhindern konnte, daran zu kratzen, aus Angst, es könnte wieder schuppen. Er konnte nichts erkennen, was vielleicht aber der Qualität der Reflexion geschuldet war, welche sein Gesicht verschwommen und zu einer leichten Fratze verzerrt widerspiegelten. Anstelle von Augen nur schwarze Höhlen, die ihn mit einer solchen Enttäuschung musterten, dass er den Blick abwenden musste.
Die Station war erreicht, nervös trat sein Körper in die Kälte der mittlerweile voll entfalteten Dunkelheit. Durch ein orangegelbes Spalier aus Laternen wurde er zum Eingang der Bar geleitet, die bereits von außen schick genug aussah, um seine Hoffnung auf ein Date zu vergrößern. Sprühregen benetzte sein Gesicht, Kühlung für die juckenden Flecken. Tropfen sammelten sich auf seiner Haut, ihre herabrinnenden Spuren brannten wie Eis. Während er sich langsam, unsicheren Schrittes der Bar näherte, konnte er sie bereits durch die großen Fenster ausmachen. Sie saß an einem kleinen Tisch. Alleine. Bis zu diesem Moment war ihm nicht klar gewesen, wie sehr er sich davor gefürchtet hatte, sie könnte jemanden mitbringen. Doch anstelle von Erleichterung wuchs seine Nervosität proportional zur Erkenntnis, wie wenig sie sich verändert hatte, wie schön sie weiterhin war. Zuerst waren es nur ihre langen, roten Haare, die ihm wie schon früher, zuerst ins Auge sprangen, gefolgt von ihrer weißen, beinahe elfenbeinernen Haut und die hellblauen Augen, die vielleicht nicht tief wirkten, aber strahlten, wie ein sonnenbeschienener See. Er trat so nah an das Fenster, dass er ihre Sommersprossen erkennen konnte, die selbst im heraufziehenden Winter auf wunderschöne Weise ihr Gesicht vervollkommneten.
Erinnerungen an ihre erste Begegnung brachen sich Bahn. Der Beginn des Masterstudiums, eines der ersten Seminare, das einzige, welches sie zu zweit belegten und wie er kaum aufhören konnte, sie zu beobachten und sie danach sogar spontan ins Gespräch kamen, die kleine Flamme einer Möglichkeit, und sie dann das Gebäude verließ, in die Arme ihres Freundes gleitend und sich küssend, was er abgetrennt durch die Fenster des Universitätsgebäudes beobachten musste.
Nun war sie wieder auf der anderen Seite einer Scheibe, doch dieses Mal alleine.
Die Tür öffnete sich lautlos. Wärme zog ihn in die Bar, die angenehmer weise nicht von Rauch geschwängert war. Ruhige, stille Atmosphäre lag über den Gästen und zu seinem Entsetzen, wie auch seiner Freude, erblickte und erkannte sie ihn sofort, um ihn nur einen Augenblick später in die Arme zu schließen. Ihr Körper fühlte sich auf angenehme Weise kräftig an, ein wenig drahtig, aber warm. Ihre Körper berührten sich leicht, er roch ihr Haar. Ihr Gesicht strahlte ihn an, ihre Augen leuchteten.
„Wie geht es dir? Wir haben uns ja schon ewig nicht mehr gesehen“, sie lachte beinahe vor Freude und er versuchte sich zu erinnern, wann sie sich das letzte Mal gesehen hatten.
„Ja stimmt, ist wirklich schon lange her. Mindestens zwei Jahre.“
„Seit dem Ende des Studiums, ja.“ Und er fragte sich, ob sie sich erinnerte, warum sich ihre Wege getrennt hatten. Ob sie es damals überhaupt verstanden hatte oder verstehen konnte? Vielleicht hatte es ihr aber einfach nicht so viel bedeutet, wie ihm. Und er begann zu erzählen, von seinem Job bei der Stadtverwaltung, wie Mika ihn verlassen hatte, von seiner neuen Wohnung, in stetem Bewusstsein, wie wenig ihm in den zwei Jahren tatsächlich widerfahren war, wie furchterregend wenig er erlebt hatte. Dabei wäre das Date vorüber, sobald er sie seine Verzweiflung spüren lassen würde und das, obwohl der Anfang gut aussah, sogar sehr gut. Obwohl er weiterhin nicht sicher war, ob es sich von ihrer Seite aus um ein Date handelte. Vielleicht war sie sich selbst noch nicht sicher. Er gemahnte sich zur Ruhe, wusste, es nicht übereilen zu dürfen. Es war nicht notwendig, gleich beim ersten Treffen einen Weg zu finden, sie zu küssen. Ein wenig Zeit würde er sich wahrscheinlich nehmen können.
Natürlich erzählte er ihr auch nichts von der Einsamkeit, oder den nächtlichen Stimmen vor seiner Wohnung, die ihm den Schlaf raubten. Möglichst rasch versuchte er das Gespräch auf sie zu lenken. Menschen mochten es, von sich selbst erzählen zu können, hatte er gehört.
„Naja, nachdem ich endlich meinen Abschluss hatte, habe ich tatsächlich eine Festanstellung beim Fraunhofer Institut gefunden, wo ich immer noch bin. Immer noch auf derselben Position wie vor zwei Jahren, aber das ist okay. Sie bezahlen ganz gut und das Team ist sehr nett, habe auch ein paar Freundinnen gefunden, also, naja, zwei zumindest. Ich überlege trotzdem zu kündigen.“
„Macht es dir keinen Spaß mehr?“ Sie mochten es angeblich auch, wenn man nachfragte, auf diese Weise Interesse bekundend.
„Nicht wirklich. Es ist kein schlechter Job, aber es ist immer wieder dasselbe und mittlerweile habe ich das Gefühl alles gesehen zu haben. Aber ich schaffe es einfach nicht, mich aufzuraffen wieder Bewerbungen zu schreiben. Und einfach aufhören kann ich ja auch nicht, irgendwie muss ich ja Geld bekommen.“
„Wo würdest du denn arbeiten wollen?“
„Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich bewerbe ich mich deswegen nirgendwo.“ Sie sah schön aus, wenn sie traurig war. Das war schon immer so gewesen.
„Vielleicht brauchst du einfach mal eine Auszeit. Ohne Arbeit. Ohne Studium.“
„Und wovon soll ich die Miete bezahlen?“
„Vielleicht beantragst du einfach Arbeitslosengeld?“ und er versuchte es, diese Chance war genauso schlecht, wie jede andere, „oder vielleicht kann dein Freund dich eine Zeitlang mit finanzieren?“
„Du meinst Julian?“ Ihre Augen schienen dunkler zu werden, vielleicht auch nur die Schatten in ihren Höhlen, „Wir haben uns vor ungefähr einem Jahr getrennt.“
„Das tut mir Leid.“
„Muss es nicht. Ich hab schließlich Schluss gemacht“, innerlich tobte er vor Freude. „Warum auch immer ich das gemacht habe.“
„Willst du darüber reden?“
Aber sie schüttelte nur den Kopf. Die Augen schienen ein wenig feucht, aber das taten sie meistens, wenn er sich richtig erinnerte. Sie schwiegen. Es fiel ihm schwer zu sagen, ob es angenehm war, oder nicht. Er nickte nur, sah ihr in die Augen, sie blickte zurück und er fragte sich, ob er nach ihrer Hand greifen sollte. Aber vielleicht hatte sie ja auch schon wieder einen neuen Freund. Woher konnte er das wissen? Oder sie stand jetzt auf Frauen? Die Vorstellung erregte ihn ein wenig, damit würde er besser umgehen können, als mit einem anderen Mann. Seine Ex hatte auch manchmal etwas mit Frauen gehabt. Das hatte ihn nicht gestört.
Aber sie wechselte bewusst das Thema. Sprach von ihrer Jobsuche, der Hoffnung, auf eine Stelle, die sie vielleicht interessieren könnte „Notfalls bleibe ich eben beim Fraunhofer. Es gibt schlimmere Jobs als diesen und immerhin hat es peripher damit zu tun, was ich studiert habe.“ Sein gekränkter Blick schien ihr aufgefallen zu sein. „Ach komm schon, dein Job ist doch auch gut, oder? Außerdem musste doch irgendwann die Realität zuschlagen. Wer braucht schon Politikwissenschaftler? Auch wenn wir gut in der Uni waren und die Uni gut darin war uns vorzuspielen, wir seien etwas Besonderes, war uns doch bewusst, dass es eine Illusion war, oder? Vielleicht hat es bei uns etwas länger gedauert, bis die Erkenntnis diese Traumblase stach.“ Sie wirkte, als wollte sie noch etwas sagen, doch ihre Lippen bewegten sich nur stumm für wenige Sekunden und erstarrten dann endgültig.
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