Der Knall der gewaltigen Explosion in dem Museum ließ die Scheiben der Dachterrasse erzittern, als er das Glas gerade ausgetrunken hatte. Kurz darauf breitete sich eine wohltuende Wärme in seinem Körper aus. Eine Wärme, die man allenfalls nachts im Schlaf, während besonderer Träume, spürt. Wenn man sich geborgen und wohl fühlt. Glücklich. Ohne Bedürfnisse. Eins mit dem Universum. Das Champagnerglas, welches aus seiner Hand rutschte und auf dem Fliesenboden der Terrasse zerschellte, nahm er nicht mehr wahr. Mit dem Verlöschen der Scheinwerfer schloss er die Augen.
Am nächsten Vormittag.
„Ich definiere unsere Aufgaben folgendermaßen:
Verhinderung neuer Attentate, und
Aufspüren der Täter und Hintermänner.“
Er machte eine demonstrative Pause, um seinen Zuhörern Zeit zum Nachdenken zu geben. „Nicht mehr und nicht weniger. Und bis jetzt sieht es so aus, als würden wir die Stecknadel im Heuhaufen suchen.“
„Ist es denn nicht möglich, dass Jensen-Mendez der Hintermann ist? Ist es denn nicht wahrscheinlich, dass mit seinem Tod auch die Attentate vorbei sind?“ Einer der jungen Agenten meldete sich zu Wort. Er sprach aus, was viele hofften. Doch Hoffnung war etwas für die Öffentlichkeit, die in den Medien stattfand. Genauso wie es Mutmaßungen und Gerüchte waren.
„Ich persönlich glaube nicht daran, dass er der alleinige Hintermann war.“ Es folgte wieder eine kleine Pause. Dann fuhr der fünfundvierzigjährige Agent des ESS fort: „Aber, was ich glaube, ist hier nicht gefragt. Gefragt sind Fakten. Wir müssen herausfinden, welche Motive hinter all diesen Kunstvernichtungen stehen. Wir brauchen Beweise, gleich welcher Art, um die Täter und Hintermänner zu überführen.“
Drei Stunden nach der Explosion in Bilbao übertrug das Europäische Innenministerium dem ESS die Leitung der Ermittlungen im Fall des sogenannten Kunstterrors. Dies bedeutete für alle bisher gebildeten Sonderkommissionen Unterordnung und Zuarbeit, sofortige Weitermeldung neu gewonnener Erkenntnisse und uneingeschränkten Einblick in Aufzeichnungen und laufende Ermittlungen.
Zum Leiter der Ermittlungsgruppe 23-14 wurde der fünfundvierzigjährige Italiener Stefano Rizzardi von der Zentrale des ESS ernannt. Seine Laufbahn begann Rizzardi beim italienischen Militär, in welchem er aufgrund seiner Sprachbegabung und hochgradiger Kombinationsfähigkeit auffiel. Mit 27 Jahren wechselte er in den militärischen Geheimdienst und wenige Jahre darauf wurde er für den neu gegründeten ESS empfohlen. Innerhalb des europäischen Geheimdienstes galt er als Legende, da alle Ermittlungen erfolgreich beendet wurden, in denen er mitwirkte. Jetzt wurde er mit dem 23. Fall des laufenden Jahres in der vierzehnjährigen Geschichte des ESS betraut.
Kurze Zeit nach seiner Ernennung begann er sein Team zusammenzustellen. Er hatte die Möglichkeit, jeden verfügbaren Mitarbeiter des ESS in sein Team zu holen. Als verfügbar galt jeder, der derzeit nicht zu einer Ermittlungsgruppe gehörte oder nach Rücksprache mit anderen Gruppenleitern frei gegeben wurde. Das ESS arbeitete in seiner Personalzusammenstellung hochflexibel. Ermittlungsgruppen wurden laufend erweitert, umgruppiert, neu strukturiert. Die Arbeit zeichnete sich durch Kreativität, Selbständigkeit und von hoher Motivation aus.
Jeder Ermittlungsgruppe wurden zwei stille Beobachter zugeteilt, welche in sämtliche Arbeitsvorgänge Einblick nehmen durften, ohne selbst mitzuarbeiten. Ihr einziger Auftrag war die Rechtmäßigkeit der Arbeit der Ermittlungsgruppe zu überwachen und die Zentrale über alle bedeutenden Vorkommnisse zu unterrichten.
Der einzige Mitarbeiter seines Teams, den sich Rizzardi nicht selbst aussuchen konnte, war der englische Agent Anthony Brown. Als erster, auf „ein mögliches Vorkommnis von besonderer Bedeutung“ angesetzter Agent hatte er seine bisher gewonnenen Erkenntnisse und Informationen an die Ermittlungsgruppe weiterzugeben. Es stand Rizzardi frei, ihn danach aus seinem Team zu entlassen.
„An Fakten haben wir bisher sehr wenig.“ Anthony Brown griff damit die Worte von Rizzardi auf, als er zu einer ersten Zusammenfassung aufgefordert wurde. „Was wir haben, sind die Namen der ausführenden Täter. Diese sind entweder verschwunden oder tot. Wir wissen, was zerstört worden ist, mit welchem Material und welcher Technik. Aufgrund von Kodierungen auf Bekennerschreiben und Telefaxen wissen wir, dass die Anschläge in Amsterdam, Paris und Bilbao im Zusammenhang zueinander stehen.“
Brown machte eine kurze Pause, um Kopien des ersten Bekennerbriefes und der beiden Telefaxe in die Runde zu geben. Die Mitglieder der Ermittlungsgruppe fanden sich in Wien in der nationalen ESS-Zentrale zusammen. Rizzardi bevorzugte Wien wegen seiner relativ zentralen Lage in der Europäischen Union.
„Wenn ich mir das zweite Telefax anschaue, dann wird hier ein weiteres Attentat angekündigt.“ Rizzardi stellte die Bemerkung als Frage an Brown.
„Das ist richtig. Es bedeutet für uns, dass noch mehr Leute hinter den Anschlägen stecken. Diesen Schluss lassen auch die bisherigen Untersuchungsergebnisse zu.“ Als keiner der Anwesenden dazu etwas sagte, fuhr Brown fort: „Die verwendeten Explosivstoffe sind Spezialentwicklungen, welche bisher ausschließlich Sprengstoffexperten des europäischen oder amerikanischen Militärs, beziehungsweise Spezialeinheiten der Polizei zur Verfügung stehen. Die eingesetzte Technik des in Paris verwendeten Rollstuhls ist auf einem Stand der Technik, den selbst unsere Experten erst in ein paar Jahren für möglich gehalten hätten. Nicht zuletzt ist es den Tätern in Amsterdam und Paris gelungen, die Überwachungstechnik zu überlisten und unterzutauchen. Hinter diesen Taten muss eine mehrköpfige, finanzkräftige Organisation mit Insiderkenntnissen stehen.“
„Mir fällt auf, dass die Täter vermeiden wollten, dass Menschen verletzt oder getötet werden. Ich entnehme das insbesondere dem zweiten Telefax. Ist es richtig, dass taktische Fehler der Polizei für die Verletzten in Paris verantwortlich sind?“ Der Psychologe des Teams, der Engländer Dr. Howard Martin, meldete sich zu Wort.
„Der Code für das Telefax in Paris wurde von den Amsterdamer Ermittlern zurückgehalten. Deshalb ging die echte Warnung zwischen den vielen Trittbrettfahrer-Aktionen unter.“
„Okay. Es ist mir klar, dass sie viele Fragen haben. Agent Brown, Sie stellen mir bitte sämtliche bisherigen Untersuchungsergebnisse zusammen. Ich brauche die Unterlagen sortiert nach Amsterdam und Paris, Ermittlungen zu Bekennerbrief und erstem Telefax, Biografien der drei Täter. Ferner brauche ich von Ihnen eine Liste aller bisher ermittelnden Dienststellen.“ Die Anweisungen von Rizzardi waren knapp und präzise. Dennoch war sich Brown nicht sicher, ob der Italiener ihn in seinem Team haben wollte.
„Dr. Martin, Sie erstellen mir bitte zuerst ein Profil von diesem Bildhauer, danach von den beiden ersten Attentätern. Außerdem brauche ich von ihnen eine psychologische Analyse über die möglichen Hintergründe.“
„Danielle!“ Damit wandte er sich an eine französische Agentin, mit der er schon oft zusammen gearbeitet hatte. „Sie suchen Kontaktleute für die Behörden in Amsterdam und Paris aus. Die üblichen Voraussetzungen: Landessprache, Sachverstand, sprich Kenntnisse von der Kunstszene. Sie selber leiten die Ermittlungen vor Ort in Bilbao.“
Zwei weitere Frauen und ein Mann blieben noch übrig. „Roger. Sie versuchen etwas über den verwendeten Sprengstoff und den Rollstuhl herauszufinden. Ich verspreche mir hier eine erste heiße Spur.“
Er wandte sich an die beiden Frauen, zuerst an eine Rumänin, danach an die Dänin Erica Peddersen. „Irina, Sie sind ab sofort mein Stellvertreter und koordinieren hier in Wien die Arbeit des Teams.“ Die Angesprochene nickte nur. Sie arbeitete bereits zum dritten Mal für ihn.
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