„Diese Frage hat mir die Polizei auch immer wieder gestellt“, antwortete Paul, „aber so war es nicht. Ich wusste, dass die Pistole echt ist. Und mir war auch bewusst, dass sie geladen ist. Ich wusste nur nicht, dass er es nicht schaffen würde, diese Pistolenkugel aufzuhalten.“ Er schluckte. Auf ihrem hochauflösenden Plasma-Bildschirm konnte Diana sogar die vereinzelten Schweißperlen erkennen, die sich auf seiner Stirn bildeten.
„Wie hatte er vor, die Kugel aufzuhalten?“, fragte der Moderator unbarmherzig.
Paul schüttelte den Kopf. „Das weiß ich nicht.“
„Das wussten Sie nicht?!“, wiederholte Peter Herlig mit aufgesetzter Überraschung. Für Diana war es offensichtlich, dass er diese Tatsache bereits vor dem Interview in Erfahrung gebracht hatte. Sie fragte sich, ob dies auch anderen Zuschauern auffiel oder ob sie durch ihr Studium einen besseren Blick für all dies hatte.
„Wir wussten nie, wie seine Tricks genau funktionierten. Wir wussten immer nur genau das, was wir wissen mussten, um unseren Part durchführen zu können.“ Etwas hilflos, aber in keiner Weise schuldbewusst, hob Paul die Schultern. Seine Gefühle waren nicht gespielt.
„Das heißt, Sie haben wissentlich mit einer tödlichen Waffe auf einen Mann gefeuert, von dem Sie davon ausgehen mussten, dass er bei diesem Angriff sterben würde?“
Mit dieser Frage schaffte er es, Dianas ohnehin schon schlechte Laune noch ein Stück tiefer zu ziehen.
„Ich bin in keiner Sekunde davon ausgegangen, dass er sterben würde!“, verteidigte sich Paul leidenschaftlich.
„Wir haben ebenfalls auf ihn geschossen“, kam Franz Paul endlich zur Hilfe. Diana hatte mittlerweile erfahren, dass er einer der ersten Polizisten gewesen war, die auf John geschossen hatte. Auch er war ein Schüler von John. „Und auch unsere Waffen waren echt und geladen. Unsere Schüsse hat er aufhalten können.“
„Und keiner von Ihnen hat gewusst, wie er das angestellt hat?“, hakte der Moderator noch einmal nach. Seine aufgesetzte Art hätte ihn auch bei einem weniger ernsten Thema unsympathisch erscheinen lassen.
„Er war der Magier“, sagte Franz schlicht, als beantworte das jede weitere Frage.
„Wir haben einfach auf seine Fähigkeiten vertraut“, fügte Paul hinzu.
„Und Sie machen sich selbst gar keine Vorwürfe?“, fragte Peter Herlig.
Paul schwieg eine Weile. Dann blinzelte er zweimal. „Doch. Jeden Tag.“
„Ja, das hast du super hinbekommen, John“, sagte Diana vor dem Fernseher zu sich selbst. Sie biss das nächste Stück von ihrer Paprika ab. Am liebsten hätte sie den Fernseher ausgeschaltet. Um es allerdings wirklich zu tun, interessierte sie sich zu sehr dafür, wie Paul mit seinem Schicksal umging.
„Wissen Sie, warum John Gold den Trick überhaupt wiederholen wollte?“, fragte Herlig neutraler weiter. „Warum hat er es nicht einfach dabei belassen, dass er dem Publikum einmal gezeigt hatte, dass Pistolenkugeln ihn nicht verletzen konnten?“
„Das weiß ich nicht“, antwortete Paul. „Ich wünschte, er hätte den Trick nicht wiederholen wollen. Aber ich denke, er wollte ihn irgendwie anders enden lassen. Ich weiß nur nicht wie. Ich weiß nicht, wie es hätte weitergehen sollen. Meine Aufgabe war es nur, auf ihn zu schießen.“
„Einige unserer Zuschauer mutmaßen, John Gold habe sich absichtlich umbringen lassen“, erklärte Peter Herlig. „Was denken Sie darüber? Er soll wohl private Probleme gehabt haben.“
Zu Dianas Erleichterung schüttelten alle Besucher der Talkshow auf diese Frage hin vehement den Kopf. Neben Franz und Paul waren noch drei weitere Personen Gäste der Show. Zum einen saß dort Frieda Mörtel, die Vorsitzende eines von Johns Fanclubs, zum anderen Heinrich Held, ein Zuschauer der letzten Show und zum dritten war Gertrud Williger anwesend. Gertrud Williger war selbst Reporterin und hatte sich an jenem Tag mit ihrem Kamerateam vor der Sunday-Arena positioniert, um die Wetterveränderung rund um die Arena zu filmen. Diana war froh, um die Aufnahmen, die sie gemacht hatte. John war nicht dumm gewesen. Er hatte den Menschen außerhalb der Arena nicht wirklich Zutritt in deren Inneres verschafft. Alles, was John den Menschen in der Arena gezeigt hatte, war anscheinend nur eine optische Täuschung gewesen. Auch das Gewitter war zwar während Johns Auftritt verschwunden, aber nach Abgleich mit Gertruds Aufnahmen und den Aufnahmen, die während der Show gemacht wurden, nicht auf Johns Geste hin. In Wahrheit war es erst wirklich verschwunden, als er bereits gestorben war.
„Er hat zu keinem Zeitpunkt einen labilen Eindruck gemacht“, antwortete Paul.
„Er hat sich nicht umgebracht!“, ergriff Frieda Mörtel das Wort. „Und er ist auch nicht tot. So einem einfachen Assistenzzauberer wäre es doch niemals gelungen, einen so großen Magier wie John Gold zu töten. Sein Trick ist auch nicht misslungen. Es war kein Unfall, wie die Polizei es jetzt darstellen will. John Gold, dem schwarzen Magier, wäre so ein Fehler niemals passiert. Sein Trick ist einfach noch nicht zu Ende! Er wird wieder auferstehen. Er will die Menschen nur etwas mitfiebern lassen.“
Diana rollte mit den Augen. Zum einen, weil die Theorie dieser Frau so verrückt klang, zum anderen, weil sie damit doch auch noch tatsächlich Recht hatte. Die Reaktion der anderen Studiogäste zeigte deutlich, was diese von der Frau hielten. Und Diana konnte es ihnen nicht verübeln. Auch in ihren Ohren klang die Frau wie eine Spinnerin. Trotzdem kamen ihre Worte der Wahrheit am nächsten.
Genervt schaltete Diana nun doch den Fernseher aus.
Sie war froh, dass die Polizei ihre Ermittlungen so schnell eingestellt und den Vorfall als einen Unfall abgetan hatte. Sie hatte John seit seinem vermeintlichen Tod nicht mehr gesehen. Sie war zum Schein auf seiner Beerdigung gewesen, doch sie hatte nicht in seinen Sarg gesehen. Es war ihr zu dumm gewesen. Sie wusste, dass John noch lebte.
In ihrem Schreibtisch hatte sie einen Brief von ihm gefunden, in dem er ihr geschrieben hatte, dass er zurück nach Aeb gehen würde. Das war alles gewesen. Keine Worte des Abschieds, keine Worte der Trauer. Oder der Reue. Er war noch nie ein Mann gewesen, der seine Gefühle gut hatte ausdrücken können. Und wahrscheinlich hätte sie auch nichts anderes von ihm hören wollen. Sie lebte weiter in ihrem gemeinsamen Haus. Noch immer mied sie die Küche. Auch in diesem Moment sah sie wieder das Bild Daniels vor ihrem inneren Auge aufblitzen.
„Ich hasse dich“, entwich es ihr, obwohl sie wusste, dass niemand sie hören konnte.
Sie zuckte zusammen, als es dann plötzlich doch an der Tür klingelte, als reagiere jemand auf ihre Worte. Nach der ersten Schreckenssekunde verwarf sie allerdings den Gedanken, dass es John sein könnte, der vor der Tür auf sie wartete. Es hatte sich in den letzten Tagen nicht selten zugetragen, dass unangekündigt Besuch bei ihr vorbeigekommen war. Entweder wollten Freunde ihr Beileid bekunden oder die Presse bat sie um Interviews. Bei jedem Klingeln hatte Diana Angst gehabt, dass es John war, der auf der anderen Seite der Tür stand. Dabei hätte er vermutlich gar nicht geklingelt.
Langsam ging sie auf die Eingangstür zu. Auch wenn sie sich selbst einredete, dass er es nicht war, der die Klingel betätigt hatte, so herrschten doch Zweifel darüber in ihr. Sie wollte ihn nie mehr wiedersehen. Und auch auf anderen Besuch hatte sie zurzeit nicht viel Lust. Schon gar nicht auf die Presse.
Vorsichtig sah sie besonders leise durch den Türspion, um im Notfall so tun zu können, als wäre sie nicht zuhause. Ihr Herz schlug schneller, als sie sah, wer wirklich dort stand.
Schnell öffnete sie die Tür.
„Miriam!“, stieß sie vollkommen überrascht aus. Mit ihr hätte sie niemals gerechnet.
Miriams nervöse Miene verwandelte sich in Erleichterung, als sie Diana sah. Herzlich umarmte sie Diana.
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