Ohne Widerwort folgte Jonathan der Anweisung seiner Mutter und setzte sich zu ihnen an die Tafel. Augenblicklich begannen Apolonias Untergebenen den Tisch reichlich mit Speisen zu decken. Ein gebratener Truthahn, Obst, Kartoffeln, Brot und Gemüse wurden aufgetischt.
„Miriam sagte mir, das Volk hungere“, erklärte John, als er den ersten Bissen genommen hatte. Er griff nach dem Brot auf dem Tisch und brach es. Der Anblick der reichlichen Speisen hatte ihn lediglich an dieses Thema erinnert. In keinem Fall sprach er es an, um ihr einen Vorwurf oder gar ein schlechtes Gewissen zu machen. Zu seiner Zufriedenheit, nahm Apolonia es auch nicht so auf. „Das stimmt auch“, bestätigte sie Miriams Worte schlicht. „Unsere Männer haben nahezu unsere gesamten Vorräte als Proviant mit sich genommen. Und die Ernte im letzten Jahr war fürchterlich. Dieses Jahr ist es nicht besser. Vielen Menschen in Aeb geht es nicht gut.“ Sie klang ernsthaft besorgt. Natürlich war es ihr als Burgherrin ein Anliegen, dass es ihren Bürgern gut ging. Und trotz ihren Erklärungen, war es seltsam, dass das Dorf so schlecht versorgt sein sollte.
„Wie sieht es auf dem Markt in Herrensdorf aus?“, wandte er ein. „Dort war die Ernte noch nie schlecht.“ Er wusste, dass Aeb bisher regen Handel mit dem Klosterdorf betrieben hatte. Trotz des Krieges hätten die Erträge Herrensdorfes dem Hunger in Aeb sicher entgegenwirken können.
Apolonia lachte jedoch nur trocken. „Oh, ja genau“, antwortete sie mit kritisch gehobenen Augenbrauen, „vielleicht sollten wir von dort unsere Nahrung beziehen.“ Sie schüttelte den Kopf, während ihre Mundwinkel noch immer zuckten, als habe er einen Scherz gemacht.
Mit echter Irritation runzelte er die Stirn. „Verzeiht, doch ich verstehe Eure Belustigung nicht“, entgegnete er, um dieser Irritation Ausdruck zu verleihen.
Er bewirkte damit, dass sich seine Verwirrung auf sie übertrug. Sie musterte ihn eine Weile, mit dem offensichtlichen Ziel, herauszufinden, ob er seine Aussage ernst meine. „John, Ihr scherzt“, sagte sie, als sie ebenso offensichtlich zu keinem eindeutigen Ergebnis kam.
„Was ist mit Herrensdorf?“
„Oh, Ihr wart einfach zu lange fort!“
„Und was hat sich in meiner Abwesenheit in Herrensdorf ereignet?“, fragte er zunehmend misstrauisch.
Sie ließ ihn nicht lange auf eine Antwort warten. „Herrensdorf ist von den Gallianen besetzt worden. Ihr wisst gar nicht, worum es in diesem Krieg geht, oder?“
Mit einem Mal verschwand der Ansatz guter Laune, die in Apolonias Gesellschaft in ihm aufgekeimt war, und seine Stimmung verfinsterte sich. Dass Herrensdorf ein Ziel dieses Krieges hätte werden können, davon war es tatsächlich nicht ausgegangen. „Herrensdorf wurde zu Ehren Gottes errichtet“, stellte er leise fest. „Wer könnte es wagen, mit Gewalt dort einzudringen?“
Apolonia hob eine Schulter. „Nun, offensichtlich die Gallianen.“
„Was ist mit dem Kloster dort? Und seinen Einwohnern? Wurden sie verletzt?“
Sie legte den Kopf zur Seite. „Verzeiht meine Verwunderung, doch die Sorge um fremde Menschen entspricht nicht unbedingt Eurer Gewohnheit.“
Zur Antwort schüttelte er den Kopf. Natürlich konnte die Burgherrin nicht wissen, dass die Bewohner dieses Dorfes ihm nicht so fremd waren, wie sie glaubte. Niemand wusste von seiner Vergangenheit und er hatte auch nicht vor, etwas daran zu ändern. Langsam trank er von dem Wein, den Apolonia ihm eingeschenkt hatte. „In diesem Krieg geht es also um Herrensdorf?“, versuchte er noch mehr zu den Hintergründen zu erfahren.
„Vor allen Dingen um Herrensdorf, ja. Aber auch um die umliegenden Dörfer. Die gallianische Dorfbevölkerung hatte in den letzten Jahren viel mehr Ernteeinbußen zu erleiden als wir. Sie sind zunächst ohne Erlaubnis ihres Königs über die Grenzen gekommen, um von uns Nahrung zu stehlen. Einige Bauern haben dann wohl heimlich Felder im Hoheitsgebiet König Heinrichs angelegt. Unser Boden scheint etwas besser zu sein. Insbesondere in Herrensdorf. Ich habe von dem Ackerbau nicht besonders viel Ahnung, wie Ihr Euch denken könnt. Doch dafür verstehe ich die Hoheiten umso besser. Als bekannt wurde, dass Gallianen unerlaubt Heinrichs Land besiedelten, wohlgemerkt ohne Abgaben zu leisten, weder an ihn noch an den gallianischen König, forderte unser ehrwürdige König Heinrich den gallianischen Roi Louis auf, seine Gefolgsleute öffentlich auf gallianischem Grund von heronischen Gefolgsmännern hinrichten zu lassen. Natürlich witterten beide Könige eine Gelegenheit für Krieg. Louis erteilte seinen Bauern Absolution und predigt ihnen seither, dass sie ebenso ein Recht zu leben und ein Recht auf Nahrung haben wie wir Heronen. Und dass es wert sei, für dieses Recht zu kämpfen. Es ist lächerlich, in anderen Teilen Gallias sieht die Ernte immer noch gut aus und würde er die Abgaben in den Bereichen, wo es gerade schlecht aussieht, erniedrigen, so könnten die Menschen dort wahrscheinlich irgendwie zurechtkommen. Natürlich möchte er ihre Leidenschaft nur ausnutzen, um sein Reich zu vergrößern. Und gerade das ertragsreiche Herrensdorf hat es ihm angetan.“
John griff nach dem Weinkrug und füllte sich sein leeres Glas auf.
„Habe ich euch verstimmt?“ Apolonias Blick wanderte von seinen Augen zu seinen Lippen. Er selbst spürte die Kälte, die in seinem Gesichtsausdruck lag. Er sah keinen Grund darin, sie zu verbergen. Dennoch schüttelte er auf ihre Frage hin abermals nur knapp den Kopf. „Warum freutet Ihr Euch, mich zu sehen?“, fragte er sie, statt sie an den anderen Gedanken teilhaben zu lassen, die ihm durch den Sinn gingen. Hätte sie in diesem Moment von ihm verlangt, die Gallianen in Herrensdorf zu töten, er hätte es vermutlich getan, um seinem Ärger Luft zu lassen. Es war ihm unbegreiflich, wie jemand es hatte wagen können, den Frieden in diesem Dorf zu zerstören.
„John, ich freue mich immer Euch zu sehen“, antwortete Apolonia unverfänglich. Ihre Höflichkeit war in diesem Moment allerdings unangemessen. Er war nicht auf den Austausch oberflächlicher Belanglosigkeiten aus.
Sein stechender Blick ließ Apolonia erröten. „Ich hatte gehofft, Ihr könntet es regnen lassen“, lenkte sie ein, ohne dass er noch einmal nachfragen musste. „Wie gesagt, meine Kenntnisse über die Landwirtschaft sind begrenzt, doch ich denke, es würde unseren Böden guttun.“
Schon bevor sie ihren Satz zu Ende gesprochen hatte, war durch die geöffneten Fenster des Saals das leise Rieseln des Regens zu hören, obwohl John noch immer nicht glaubte, dass Apolonia mit diesem Wunsch ihre wahren Sorgen zum Ausdruck gebracht hatte.
„Oh, danke! Jonathan, sieh nur, es regnet“, wandte sie sich an ihren Sohn. Es wirkte fast, als wiche sie Johns Blick aus. Der kleine Junge sah nur flüchtig aus dem Fenster, antwortete mit einem knappen „Ja“ und widmete seine Aufmerksamkeit dann wieder dem Apfel in seiner Hand.
John musterte Apolonia weiterhin scharf. „Um Regen hättet ihr auch Miriam bitten können.“
Die Freiherrin griff nun ihrerseits zum ersten Mal nach dem Weinglas vor ihr. Jetzt war es unverkennbar, dass sie seinem Blick auswich. „Haben wir“, erwiderte sie, nachdem sie einen Schluck genommen hatte, „doch es hat nichts geholfen. In ihrem Wasser steckt nicht die gleiche lebensspendende Energie wie in Eurem.“
John sah auf das Glas in ihrer Hand. Er wusste, warum sie es nicht wagte, ihm ihre eigentlichen Ängste zu gestehen. Sie kannte ihn und seine Abneigung gegen lästige Bittsteller lange genug. Er hätte auch nicht sagen können, dass er sie generell davon freisprach. „Seid offen zu mir“, forderte er jetzt dennoch. „Was erhofftet Ihr Euch durch meinen Besuch?“ Er wartete fast nur darauf, dass sie von ihm forderte seine Magie zu nutzen, um Menschen zu schaden.
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