Emily bemerkte sein Zögern natürlich.
„Jetzt mach dir mal keine Sorgen wegen den beiden.“
„Ist das so offensichtlich?“
„Na du weichst bestimmt nicht Daniel oder Matty aus.“
Er erwiderte ihr Lächeln schwach. Wenn er nachdachte, war es wirklich offensichtlich.
„Kümmere du dich darum, dass du was isst und mal einen Moment an was anderes denkst. Daniel und ich kümmern uns um den Rest.“
„Danke, Em.“
„Dafür nicht.“
Sie ging weiter und diesmal folgte er ihr in den Raum, in dem sie zum Essen zusammen kamen. Für einen Speisesaal war er zu klein, für ein Esszimmer zu groß. Lucas Austen fand ihn prächtig und während Emily sich bloß fürs Buffet interessierte, steuerte Gerry auf den Tisch zu, um den seine Freunde verteilt saßen. Sie hatten aufgehört zu essen und er fühlte ihre besorgten Blicke auf sich, als er den Stuhl neben Daniel zurückzog und sich setzte.
„Willst du nichts essen?“, fragte Elise und erwachte damit als erste aus der überraschten Starre, mit der ihm alle begegneten.
Bevor er etwas dazu sagen konnte, schob Daniel ihm seinen Teller zu.
„Natürlich isst er was.“
Kurz darauf reichte er ihm auch sein Bier. Die Flasche war zwar geöffnet, aber er hatte noch nicht viel von ihr getrunken.
„Ich kann mir später ein Neues holen.“
Gerry nickte dankbar und bevor er in dem Essen herumstocherte, trank er was. Vielleicht gelang es dem Bier das nagende Gefühl in ihm zu betäuben, dass ihn zurück zu Rhylee dränge. Dabei konnte er nichts für sie tun, das wusste er. Trotzdem fühlte es sich nicht richtig an, hier zu sein, statt bei ihr.
Emily kam zu ihnen und reichte einen der beiden Teller ungefragt Daniel herüber. Sie setzte sich neben ihn und dann passierte etwas Unerwartetes. Statt das ihn alle durcheinander über Rhylees Zustand ausfragten, oder ihn mit Sprüchen aufzuheitern versuchten, begannen Emily und Matty ein Gespräch über die Arbeitsweise von Ms. Brooks Team. Will und Elise, die ebenfalls schon mit zwei Mitarbeitern der Amerikaner auf Patrouille gewesen waren, beteiligten sich sofort an der Unterhaltung und gaben ihm somit die Freiheit zu essen, ohne irgendwelche Fragen zu beantworten.
Nur Daniels ernsten Blick spürte er hin und wieder auf sich. Er beteiligte sich nicht an der Diskussion.
Als das Bier alle war, stand Gerry auf. Das Gespräch verstummte sofort und verriet ihm damit, dass sie sich zwar seinetwegen Mühe gaben, aber dennoch aufmerksam genug darauf achteten, was er machte.
„Wo willst du hin?“
Gerry erwiderte Daniels Blick. Sein bester Freund war es gewohnt, sich mit Gerrys sturem Dickkopf zu messen.
„Ich bin fertig.“
„Dein Teller ist noch halb voll.“
„Ja, Ma‘am.“ Gerry schob seinen Stuhl zurück an den Tisch. Er hatte nicht vor, sich vorschreiben zu lassen, wie lange er hier sitzen musste. Er hatte Emily den Gefallen getan und sie begleitet. Er hatte so viel gegessen wie er konnte, ohne dass sein Magen rebellierte, außerdem war das Bier leer.
„Ich will jetzt weder ein zweites Bier, noch mehr essen. Ich möchte einfach zurück zu Rhylee.“
Er hatte keine Lust sich zu rechtfertigen, aber die Worte polterten aus seinem Mund. Es war unfair, wie er mit ihnen umsprang. Aber er war launisch und gerade nicht in der Stimmung, sich zurückzuhalten. In ihm tobte ein ganzer Vulkan an unausgesprochener Wut. Gerry spürte wie sie wuchs und wuchs. Die ganze Situation war nicht bloß unfair. Sie war nicht nur Wescotts oder Austens Schuld. Vor allem war sie Sateks Schuld und allein an den Namen des Monsters zu denken, brachte seine Sicherungen fast zum Durchbrennen. Das Wasser in Elise Becher begann zu verdampfen und das Glas wackelte verdächtig.
„Dann solltest du gehen.“
Überrascht sah er zu Emily. Sie nickte ihm zu. Gerry sah einmal in die Runde, aber niemand schien Einspruch zu erheben. Em hatte diese Wirkung. Es war schwer jemandem zu widersprechen, der einem schon mehr als einmal das Leben gerettet hatte und zudem die Gabe besaß, Dinge so auszusprechen, dass sie wie Fakten klangen und nicht wie Möglichkeiten. Wenn sie also beschlossen hatte, dass ihn keiner zurückhalten sollte, dann tat es auch niemand.
Ein dankbares Lächeln umspielte für ein paar Sekunden seine Lippen und verdrängte den grimmigen Gesichtsausdruck.
Je näher er Rhylees Zimmer kam, umso mehr verschwand das Lächeln und das Gefühl der Dankbarkeit wurde von Unsicherheit überlagert. So ging es ihm immer, wenn er wusste, dass Scott bei ihr gewesen war. Die Untersuchungen brachten die Möglichkeit mit sich, dass es zu Ende war. Dass Scott ihm sagte, Rhylee wachte nicht wieder auf, sondern wäre endgültig gegangen.
Wie immer musste er ein paar Mal tief Luft holen und seine Kraftreserven mobilisieren, bevor er die Tür öffnete. Scott hatte gerade die Vorhänge etwas geöffnet, um ein wenig mehr der Abendsonne hereinzulassen. Die untergehende Sonne tauchte das Zimmer in goldenes Licht. Es wirkte wärmer und hübscher, als die Situation Anlass dazu gab. Gerry störte sich daran und erkannte an Scotts Gesichtsausdruck, dass seine Gefühle ihm offen ins Gesicht geschrieben standen. Er räusperte sich. „Wie geht es ihr, Doc?“
„Ach, Gerry.“
Er warf Scott einen Blick zu, der ihn aufforderte, damit aufzuhören. Er konnte es nicht gebrauchen, dass Scott anfing, ihn zu bemuttern.
„Ich will die Wahrheit wissen.“
„Nicht gut.“ Der Doc schüttelte den Kopf. „Gar nicht gut, Gerry.“
„Was heißt das?“, bohrte er weiter. Seine Stimme klang genauso kühl, wie er sich fühlte. Jedes bisschen Wärme floh und mit der Wärme auch jegliches andere Gefühl.
„Ihr Herz schlägt weiterhin unregelmäßig. Sie kämpft, so viel ist klar, aber ihr Puls wird zunehmend schwächer. Ohne die Beatmung und ärztliche Überwachung wäre sie längst nicht mehr bei uns.“
Bisher hatte Scott sich bemüht hoffnungsvoll zu klingen. Er hatte das offensichtlich aufgegeben und das war eine deutlichere Antwort, als alles was er hätte sagen können.
„Ihre Gehirnfunktion ist dagegen sehr gut.“
„Was heißt das?“
„Das Koma ist so etwas wie ein Tiefschlaf des Bewusstseins. Es sind auch Hirnströme vorhanden, für gewöhnlich viel geringer und langsamer, als bei wachen Patienten. Rhylees Gehirn arbeitet nach meinen Messungen aber nahezu normal.“
Hoffnung keimte in ihm auf. „Aber das ist doch prima. Das heißt, sie wacht bald auf, wenn ihr Gehirn schon normal arbeitet.“
Scott zögerte mit seiner Antwort, dann schüttelte er nachdenklich den Kopf. „Nicht unbedingt, Gerry. Das Koma ist eine natürliche Schutzfunktion des Körpers. Das Bewusstsein zieht sich zum Beispiel aufgrund einer traumatischen Erfahrung, wie in Rhylees Fall, weit hinter die Grenzen des vegetativen Nervensystems zurück. Alle Vitalfunktionen von Rhylee lassen auf ein Koma schließen, selbst ihre Anamnese spricht dafür. Nur ihr Gehirn spielt da nicht mit. Und das ist schlecht. Laut der Werte müsste sie sich bei vollem Bewusstsein befinden.“
„Ich verstehe nicht, was daran nicht positiv ist?“ Gerry atmete heftig ein und aus. Was sollte denn noch alles passieren, bevor er sie endlich zurück hatte?
„Ich befürchte, dass sie diesen Zustand nicht mehr lange mitmachen wird.“ Scott sah Gerry auf diese Art an, die sich schmerzhaft in sein Gedächtnis gebrannt hatte. Damals hatte der Doc ihm die Nachricht von Rhylees Unfall bei dem Ritual und den Folgen überbracht.
„Wenn sie nicht bald aufwacht, dann wird ihr Gehirn kollabieren. Der menschliche Körper kann zwar in ein Koma fallen. Aber in Rhylees Situation wird er es nicht lange verkraften.“
„Was wäre, wenn … wenn sie kollabiert?“, fragte er unsicher. Scott schüttelte hoffnungslos den Kopf.
„Ist ein Patient hirntot, ist es nur noch eine Frage von Stunden, bevor man die lebenserhaltenden Maschinen abschaltet.“ Scott sah ihn an. „Wenn das passiert Gerry, kann ich nichts mehr für sie tun. Niemand kann sie dann noch zurückholen.“
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