„Worüber?“
„Über das, was wir hier tun. Werde ich etwas herausfinden? Gibt es überhaupt mehr zu finden oder verläuft sich der Ansatz einer Spur im grünen Gras, noch bevor daraus mehr als nur ein Ansatz werden konnte.“ Er sah Holly in die Augen. „Sind wir ehrlich. Wir vertrauen auf die unvollständigen und wirren Träume eines Mannes, dessen Erinnerungen einem Nudelsieb gleichen. Das ist alles andere als vertrauenserweckend.“ Er hatte Lust, diesen Frust nicht nur mit schwarzem Tee herunter zu spülen.
„Wirklich?“
James nickte bekräftigend.
„Und was ist, falls wir etwas finden? Was, wenn du die Wahrheit herausfindest? Hast du dir überlegt, was dann werden soll? Es besteht die Möglichkeit, dass man dich belogen und bewusst getäuscht hat.“
„Es sollte mir egal sein. Das ist das Schlimmste an der Situation. Die Menschen, die das getan haben, leben nicht mehr, Holly. Daher sollte für mich keine Rolle spielen, was damals passiert ist, oder warum. Ich rede mir ein, dass es mit Satek zusammenhängt.“
„Aber das tut es doch“, unterbrach sie ihn. Ihre Stimme klang energisch und er mochte, wie ihre braunen Augen Goldblitze sprühten.
„Es könnte sich genauso gut herausstellen, dass Satek mich manipuliert.“ Er sah auf seinen leeren Teller. „Es ist eine Möglichkeit und das wissen wir beide.“ Als er wieder aufsah, trafen sich ihre Augen.
„Es ist sogar logischer. Denn mir fällt kein Grund ein, der rechtfertigt, dass der Orden so einen Aufwand betrieb, nur um mich zu täuschen. Das ist einfach ineffizient.“
„Ineffizient?“, Holly gluckste. „Das kannst auch nur du sagen. Die schlimmsten Verschwörungen finden immer da statt, wo man sie nicht erwartet und sie ergeben nie Sinn für die Menschen, für die Verrat dieser Art nicht in Frage kommt.“
„Du willst sagen, ich sollte nicht davon ausgehen, dass die Männer damals die gleichen Prinzipien hatten wie ich?“
Sie nickte und er dachte darüber nach.
„Mit einem hast du Recht. Die, die am stärksten versuchen, das Richtige zu machen, tun oft genau das Gegenteil und stellen sich als die Grausamsten heraus.“
„Was soll das wieder heißen?“, fragte sie verwirrt.
„Wenn ich so ein guter, ehrlicher Mann wäre, wie du behauptest, hätte ich weder mich, noch dich oder meine Leute über all die Jahre belogen.“
„Du hast erst vor kurzem überhaupt in Erwägung gezogen, dass etwas nicht stimmt. Wie kannst du von Lügen reden, wenn du die Wahrheit nicht kennst?“
„Ich habe dir nicht meine wahren Gründe genannt, weshalb ich dich gesucht habe. Zu behaupten, er könnte keine Verbindung zu dir haben, war ebenfalls eine Lüge. Und als ich Rhylee Buchanan das Ritual durchführen ließ, ging es mir um selbstsüchtige Motive und nicht so sehr um den Mörder von Steven Craine.“
Er schüttelte den Kopf über sich selbst und sah Holly danach direkt in die Augen. „Egal, was du sagst und wie du das drehst. Du kannst nicht schönen, was ich getan habe und ändern, wer ich bin.“
„Klingt wie Selbstmitleid.“
„Wirklich?“ Er runzelte die Stirn. Während er seinen Tee trank, ließ er ihrer Feststellung genügend Raum. Nur um auf den Punkt zu kommen. „Ich hasse Selbstmitleid.“
„Konnte ich mir schon denken.“
„Also Schluss damit.“
„Schluss“, bekräftigte sie. „Die Vergangenheit zu ändern, liegt nicht in unseren Händen, hat mir mal jemand gesagt und ich finde, er hatte recht damit.“
Er sah ihr in die Augen und erwiderte ihr Lächeln, obwohl er sich anstrengen musste. Nicht, weil er es erzwingen musste. Es war ungewohnt und seine Muskeln eingerostet. Es fühlte sich seltsam an. Aber er erkannte in ihrem Blick, dass er sich nicht so blöd anstellte, wie er befürchtete.
„Deswegen sind wir schließlich hier.“ Holly deutete auf den Flughafen. „Um die Wahrheit herauszufinden. Dir zurückzuholen, was dir zusteht und dabei wenn möglich noch einen Weg zu finden, wie wir Satek stoppen. Du bist hier, um dich und mich und womöglich die Welt zu retten. Für mich klingt das ehrenhaft genug. Da ist Selbstmitleid wirklich nicht gefragt.“
„So zusammengefasst stimme ich dir zu.“
„Gut.“ Sie klang zufrieden.
Er behielt seine Sorgen für sich. Dass sie auf der Suche nach der Wahrheit, Dinge fanden, die ihm seine Erinnerung zurückbrachten, aber dabei nichts fanden, was ihnen half, Satek zu besiegen. Das war schließlich die eigentliche Mission. Er durfte das nicht aus den Augen verlieren. Die Frage, wer er in Wirklichkeit war; warum man ihm das genommen hatte, war ein persönliches Motiv, das hinter der eigentlichen Mission zurückstecken musste. Doch das tat es nicht. Er fühlte sie nur zu deutlich. Seine Schwäche, nicht an andere zu denken, sondern zu allererst an sich selbst.
Gerry
“ Hope is a fragile little thing. But if it is the only thing you have left it grows into something strong and big.”
Miami, 11.03.2017
Es lag eine unangenehme Ruhe im Raum. Als wäre etwas Schlimmes passiert. Rhylee sah aus, als schliefe sie. Sie hatte keinerlei sichtbare Wunden oder Verbände. Außer dem Sauerstoffschlauch, der von ihrer Nase wegführte, hatte Scott ihr eine Infusion gelegt. Einige tragbare, medizinische Geräte standen auf dem Nachttisch und kontrollierten die Sauerstoffzufuhr, den Herzschlag und den Puls.
Gerry fühlte sich so deplatziert, dass es ihn erschlug. Es war immer wieder so, als sähe er sie zum ersten Mal in dem viel zu großen Bett liegen. Der Gedanke, wie verloren sie wirkte, wie zerbrechlich, löste einen solch tiefen Schmerz in ihm aus, dass er sich unbewusst über die Brust fuhr. Schließlich riss ein holpriger Alarm ihn aus der Starre und nach Sekunden setzte das rhythmische Piepsen wieder ein, das zu einer Melodie geworden war, an der sein Leben hing. Solange ihr Herz schlug, gab es Hoffnung. Das versuchte er sich zu sagen und es war das einzige, was ihn vom Aufgeben abhielt.
Er verbrachte jede Minute an Rhylees Bett. Nur, wenn der Doc ihre Gehirnfunktion überprüfte und ein paar seiner regelmäßigen Tests durchführte, verließ Gerry das Zimmer. Meistens stand einer seiner Freunde vor der Tür und nahm ihn mit. Sie überredeten ihn zu essen. Sie überredeten ihn zu schlafen. Er tat manchmal, was sie wollten, weil er zu erschöpft war, um mit ihnen zu diskutieren. Aber länger als zwei Stunden hielt keiner ihn von Rhylee fern. Sollte er hungrig sein, merkte er es nicht, und wenn er schlafen musste, nickte er eben auf dem Stuhl ein. Das störte ihn nicht. Für solche Bedürfnisse war kein Platz. Alles wurde von der nagenden Angst verdrängt, sie zu verlieren. Sie durfte ihn nicht verlassen! Nicht so. Da war noch so viel, was er ihr sagen wollte.
Es klopfte an der Tür, aber Gerry reagierte nicht darauf. Ein paar Sekunden später kam Emily herein. Sie trug zwei Becher in den Händen, von denen sie ihm einen reichte. Er versuchte dankbar zu nicken, doch ein Lächeln brachte er nicht zustande.
„Daniel meinte, ich sollte dir einen Tee bringen.“ Sie sah ihn an. „Ich dachte mir, dir wäre ein schwarzer Kaffee lieber.“ Sie lächelte leicht, ohne dass es ihn überzeugte. Ihre Augen waren ein Echo seiner eigenen Gefühle.
Er musste sich abwenden. „Kaffee ist schon okay“, brummte er und schlürfte an dem Becher. Es war so, als reagiere sein Körper im Autopilot-Modus. Er dachte gar nicht über das nach, was er tat. Für einen Augenblick schmeckte Gerry die bittere Note des schwarzen Kaffees, dann war auch das Gefühl in der Leere verschwunden, die ihn erfüllte. Alles löste sich in der tiefen Schwärze in seinem Inneren in Nichts auf.
Rhylees beste Freundin blieb und setzte sich auf das Fenstersims. „Hat Scott gesagt, wie es ihr geht?“
Er schüttelte den Kopf. Trotzdem er mit keinem reden wollte, kam ihm die Möglichkeit mit Emily zu sprechen im Augenblick wie ein Anker vor. Jede Stunde, die verging, ohne dass es Rhylee besser ging, verlor er sich mehr in Hoffnungslosigkeit.
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