„Nichts Genaues.“ Er verschränkte die Arme vor dem Oberkörper. „Scott meint, wir müssen abwarten, dass sie aufwacht. Er tut, was er kann, um sie dabei zu unterstützen.“
„Aha.“ Emily seufzte. „Ich dachte immer, ich sei ein sehr geduldiger Mensch, aber ich befürchte Weihnachtsgeschenke auszupacken und das hier ist nicht das gleiche.“
Er lachte gezwungen über ihren Vergleich. Ihre Stimme klang als plaudere sie mit ihm an einem sonnigen Nachmittag auf dem Balkon, während sie darauf wartete das Rhylee fertig wurde, damit sie beide zu einer Shoppingtour durch London aufbrechen konnten. Leider war es nicht so und das Bild entsprang bloß seiner Erinnerung.
„Es ist so lächerlich. Das letzte Mal, als Rhylee und ich privat miteinander gesprochen haben, den Streit den wir hatten“, sie brach ab und seufzte wieder. „Ich weiß nicht mal mehr was ich alles gesagt habe, außer dass sie verkorkst sei.“
Er sah sie ungläubig an und erkannte, den Anflug eines Lächelns in Emilys Augen.
„Das scheint mit einmal so bedeutungslos. Damals dachte ich, es sei wichtig, ihr das zu sagen, damit sie aufhört, sich das anzutun. Dieses Versteckspiel und Weglaufen vor dem Leben. Jetzt kann ich nur daran denken, was ich ihr nicht gesagt habe, weil ich annahm, es sei offensichtlich.“
Als sie danach schwieg, fühlte Gerry sich gezwungen, nachzufragen. Er hatte längst erkannt, dass Emily nicht seinetwegen hier war, sondern weil sie jemanden zum Reden brauchte.
„Was hast du ihr nicht gesagt, was du hättest sagen sollen?“
Sie sah ihm in die Augen. „Na das gleiche, was du hättest sagen sollen.“ Ihr Blick war ernst. „Wenn es denn wahr ist.“
Gerry wusste, was sie meinte. Natürlich wusste er es. Er entschied sich dennoch dafür, es zu überhören. Es änderte jetzt nichts mehr. Also zuckte er mit den Achseln.
„Versuch nicht, mich für blöd zu verkaufen, Gerry. Du weißt genau, wovon ich spreche. Wir haben beide total versagt, wenn du mich fragst. Rhylee hat Besseres verdient. Eine bessere Freundin, als ich es war und auf jeden Fall einen netteren Mann als dich.“
Er hatte nichts dagegen, dass sie ihn verletzte. Er hatte es ohne Frage verdient. Seine Fehler waren nicht wieder gut zu machen.
„Es ist eine Sache, Rhylee zu sagen, dass sie aufhören muss, vor dem Leben wegzulaufen, aber eine ganz andere, nicht für sie da zu sein.“
„Du warst für sie da.“ Ihm fehlte die Bestimmtheit in der Stimme. Aber sein Blick war ehrlich. Er hielt Emily mit seinen Augen fest. „Ich erinnere mich daran, wie oft du da warst und versuchst hast, sie zu überzeugen mit dir shoppen zu gehen, nur um sie aus der Wohnung zu locken. Du hast alles getan, was du tun konntest.“
„Nein, das habe ich nicht, Gerry.“ Sie seufzte. „Hätte ich das, wäre es nie so weit gekommen.“
„Sie hat nicht zugelassen, dass jemand ihr hilft.“
Emilys Blick traf ihn und er hob die Hände. „Ich weiß selbst, dass ich Mist gebaut habe und ich suche nicht nach einer Entschuldigung, glaub mir Em. Aber es ist die Wahrheit. Wir haben beide unser Bestes versucht, doch sie hat es einfach nicht zugelassen, dass ihr jemand nah kommt. Sie hat sich vor uns allen verschanzt.“
Die Erinnerung war sofort da. Es lag nicht daran, dass er kurz davor war, sie endgültig zu verlieren. Das Gefühl, wie sie ihm entglitten war, jeden Tag ein bisschen mehr; wie sie durch ihn durchgesehen hatte und von einer Fremden zu einer durchsichtigen Hülle geworden war; begleitete ihn ständig. Die Angst, die Hilflosigkeit, und die Wut auf sie und sich selbst saßen unter seiner Haut und verfolgten ihn bei allem, was er tat. Er war nur sehr gut darin geworden, es nicht zu sehen.
„Mag sein. Trotzdem hätte ich ihr nach unserem Streit sagen sollen, wie wichtig sie mir ist.“ Emily lächelte und als er erkannte, wie traurig ihre Augen wirkten, wandte er den Blick auf die fliederfarbene Bettdecke, die Rhylees zierlichen Körper unter sich begrub.
„Sie ist meine beste und meine einzige Freundin.“
„Nun übertreibst du.“ Er versuchte witzig zu sein und scheiterte kläglich.
„Du weißt, dass ich nicht übertreibe.“
„Und ob. Du hast mich, Daniel, Will und Elise. Und natürlich hast du Matty.“
„Du und Daniel, ihr seid Kerle und nicht meine beste Freundin. Will und Elise sind zu jung und sowieso ein Fall für sich.“
„Und Matty? Was ist mit dem?“
„Der ist mein Bruder.“
Matthew war nicht Emilys richtiger Bruder, aber beide verhielten sich, als seien sie eineiige Zwillinge. Emily hatte ihre Eltern bei einem Autounfall verloren, den sie nur dank ihrer Fähigkeiten überlebt hatte. Matt war in den ärmsten Londoner Kreisen groß geworden, hatte verschiedene Pflegefamilien durchlaufen, nachdem er und seine Geschwister seinen Eltern weggenommen worden waren. Er redete nicht über das warum, oder darüber, was er erlebt hatte. Die beiden begegneten sich vor 6 Jahren bei den Talamadre, als sie nichts mehr in der Welt hatten außer sich selbst. Emily war gerade 20 geworden und Matty erst 18. Die beiden hatten den Kummer und Schmerz des Anderen erkannt und waren seitdem zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen.
Es vergingen ein paar Minuten, in denen Emily schwieg und ob bewusst oder unbewusst mit ihren geistigen Fähigkeiten den halbleeren Pappbecher von rechts nach links bewegte.
„Vielleicht hast du recht“, gestand er und wurde mit einem belustigten Schnauben belohnt.
„Natürlich habe ich Recht. Tante Emily hat immer Recht. Das weißt du doch, Gerry.“
Er nickte. Es machte keinen Sinn darüber zu diskutieren. Schon seit Jahren hatte Tante Emily ihren Ruf als besonders gute Ratgeberin in ihrer Gruppe. Die meisten hörten auf sie und taten gut daran. Sie war eine Beziehungsexpertin. Warum es Gerry auch nicht einleuchtete, weshalb sie ihr eigenes Liebesleben nicht auf die Reihe bekam und statt mit Daniel mit diesem Langweiler Craig verlobt war. Ein Buchhalter, der von Emilys eigentlichem Leben keine Ahnung hatte und glaubte seine Verlobte verkaufe Kosmetik und war als Selbstständige ständig auf Messen oder Vertriebsterminen.
„Liebst du sie noch, Gerry?“
Die Frage traf ihn unerwartet und das ironische Seufzen, das über seine Lippen kam, galt ihm selbst. Es war ein Fehler Emily zu unterschätzen. Sie war eine der tödlichsten Mitglieder ihres Teams. Eine Waffe auf zwei Beinen, die mit Matt zusammen keinen Auftrag scheute. Wenn anderen vor Angst die Knie schlotterten und sie zögerten, rannten die Zwei mit Begeisterung voraus. Nur weil sie klein war und hübsch aussah, war sie keinesfalls wehrlos. Den Fehler, sie zu unterschätzen, bereute man fast immer.
Er bereute es nicht, aber er hätte ahnen sollen, dass Rhylees Freundin von Anfang an auf diese Frage hinausgewollt hatte.
„Ich weiß es nicht. Es gibt so viel zwischen uns, was unausgesprochen ist.“
„Das ist keine Antwort. Liebst du sie? Ja oder nein?“
Er lachte getroffen. Emilys pragmatische Art trieb ihn in den Wahnsinn. Sie würde perfekt zu Daniel passen. Der fragte ihn das auch ständig. Ihm hatte Gerry schon tausend Mal erklärt, warum das keine einfache Frage war, egal wie einfach Daniel sie formulierte.
„Das ist nicht so einfach, Em.“ Er sah ihre blitzenden Augen und erwiderte ihren Blick. „Sag du es mir! Was denkt Tante Emily dazu?“ Abwartend verschränkte er die Arme.
„Ich werde dir verraten, was ich weiß. Alles, womit Tante Emily sich auskennt.“ Sie sah ihn an, als wolle sie sichergehen, dass er ihr zuhörte.
„Es gibt Frauen, die nach deinem Seitensprung Folgendes getan hätten. Sie hätten herausgefunden, wer sie war und erst die Schlampe und dann dich umgebracht.“
Sie lächelte auf diese ‚ Lass es uns machen, mir gefällt der Plan, Matty’ - Art, die so unernst es wirkte, trotzdem gefährlich ernst zu nehmen war.
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