„Fühlen Sie sich gut, Sir?“ Lucas entwischte die Frage, bevor er sich zurückhalten konnte.
Das Lächeln von James Wescott prägte sich aus.
Solange Sateks Manipulationskräfte nicht so weit reichten, dass er gleich zwei Menschen in seine geistige Gewalt bringen und fernsteuern konnte, passierte das gerade wirklich. Und er hatte nicht mal einen Kaffee, um es zu verarbeiten. Eine Zigarette wäre auch gut. Aber im Büro des Oberen war Rauchen verboten. Früher jedenfalls. Im Augenblick war sich Lucas nicht sicher, welche Regeln noch galten und welche mit Wescotts Lächeln aufgehoben waren.
Wenn der Obere ihm jetzt mitteilte, aufzuhören, wie sollte er das Aldwyn beibringen? Wer stellte sonst heutzutage noch Butler ein?
„Ist es Ihnen gelungen, Ms. Banks zu erreichen? Wann wird Sie hier sein und wie geht es Ms. Buchanan?“
Die Erleichterung, dass Mr. Wescott immer noch der Alte war, was das Ignorieren persönlicher Fragen anging, verflog schnell. Die Frage irritierte Lucas zu sehr. Das klang ja beinahe so, als wäre der Obere plötzlich auf seiner Seite.
„Mr. Austen? Fühlen Sie sich nicht gut?“, gab der Obere den Ball an ihn zurück und brach damit der Bann.
Lucas lachte leise. „Nein, Sir. Das ist der fehlende Kaffee. Entschuldigen Sie. Ms. Buchanan schlägt sich tapfer. Der Doc tut, was er kann, um sie bei uns zu behalten.“
James Wescott nickte ernst. Lucas war sich dem Ausdruck von Erleichterung in den grünen Augen bewusst. Er war neu und machte ihn erheblich sympathischer.
„Und Ms. Banks?“
„Ich bin dran an der Sache“, beeilte Lucas sich zu sagen. Auch wenn es falsch klang. „Allerdings hat mich Dylan informiert, dass sie Probleme mit dem Wetter haben. Der Kontaktmann sollte heute bei ihr eintreffen und dann direkt mit ihr zurück nach Miami fliegen.“
„Sie wird also morgen hier sein?“
„Das ist der Plan.“
„Tun Sie alles, was notwendig ist, um Ms. Buchanan zu retten. Sie erhalten von mir freien Handlungsspielraum. Haben Sie verstanden?“
Bestimmt träumte er. Allerdings hatte er nicht selbst behauptet, er benötigte ein Wunder, um das Unmögliche möglich zu machen? Und das ihm die Zeit davonlief? Ja, Lucas würde sich ganz sicher nicht über die Art und Weise des Wunders beschweren.
„Sehr wohl, Sir. Ich danke Ihnen.“
Wenn der Obere seinen Verstand verloren hatte, sollte Lucas es im Augenblick als Geschenk betrachten und nicht hinterfragen. Ihm fiel auf, wie Mr. Wescott und Holly sich ansahen. Nur kurz, aber er verstand sich auf Körpersprache wie kein Zweiter. Und das Lächeln, was sie tauschten, verriet ihm alles. Alles, was er nicht wissen wollte. Wie konnte sie ihm das antun?
Und was fand sie bitte an ihm? Holly Martin war Lucas nie wie eine Frau vorgekommen, die es auf Macht abgesehen hatte. Was hatte James Wescott sonst zu bieten?
„Gibt es noch was, Sir?“
„Ja. Ms. Martin und ich fahren gleich zum Flughafen. Das Taxi kommt in einer Viertelstunde.“
Fragend hob Lucas die Augenbrauen. Was bedeutete diese Aussage? Welcher Flug wohin?
„Es gibt eine Sache, der ich in England nachgehen muss. Sie kann nicht warten. Ich werde Ihnen kurz und knapp erzählen, was Sie wissen müssen und wie Sie mich kontaktieren können. Aber was ich Ihnen anvertraue bleibt unter uns. Niemand darf davon erfahren. Kann ich mich darauf verlassen, Mr. Austen?“
Lucas fragte sich nicht, weshalb der Obere meinte, dass ausgerechnet ihm anzuvertrauen - anstatt Jerry. Das war alles viel zu seltsam, um wirklich zu passieren. Gleich würde Mr. Wescott das bestätigen, indem er ihm die Verantwortung für den Orden übertrug.
„Natürlich, Sir. Sie können auf meine Verschwiegenheit zählen.“ Wem sollte Lucas auch von diesem bizarren Traum erzählen?
„Danke.“
Da war sie wieder. Die Freundlichkeit, die nicht zu Wescott passte und daher nur seiner Fantasie entspringen konnte. Warum er ausgerechnet von seinem Chef träumte, statt von einer heißen Braut? Dafür gab es keine gute Erklärung. Lucas hatte noch nie vom Wescott geträumt. Und wenn er schon von Holly träumte, hätte sie für seinen Geschmack weniger anhaben können und zudem hätte sie nicht mit seinem Chef geflirtet.
Als hätte Holly seine Gedanken gelesen, sah sie auf und in sein Gesicht. Sie schenkte ihm zwar ein Lächeln, doch es war kein Lächeln, das sagte: „Später. Lass uns später reden, Lucas, wenn wir allein sind.“
Nein, sie flirtete nicht mit ihm.
„Es ist so, dass Satek“, Mr. Wescott fuhr, sich durchs Haar. Eine Geste, die Lucas an ihm nicht kannte. Aber so langsam begriff er, dass er den Mann tatsächlich weniger gekannt hatte, als angenommen.
„Zwischen Satek und mir gibt es eine Verbindung.“
„Hieß es nicht, dass es keine Fälle gibt, die mit ihm in direkter Verbindung stehen, Sir?“
Da Lucas während Jerrys Vortrag zu genau diesem Punkt eine Frage gestellt hatte, war der Fakt bei ihm hängen geblieben. Obwohl Jerrys Vortrag wie immer zäh und langweilig gewesen war.
„Ja, das stimmt. Er taucht nicht in unserem Archiv auf. Bei den Amerikanern ist es genauso. Das habe ich überprüft.“
„Was hat das zu bedeuten?“
„Ich kann Ihnen nur sagen, Mr. Austen, das ich Satek schon vorher begegnet bin. Es gibt einen mentalen Link, ähnlich dem, den auch Ms. Martin zu ihm hat. Die einzige Erklärung scheint eine Begegnung zu sein, an die ich mich nicht erinnere.“
Das klang in Lucas Ohren verdächtig nach Manipulation. So was konnte sich der Obere nur ausgedacht haben. Falls es wahr war, was er sagte, bedeutete das doch gleichzeitig, dass Akten verschwunden waren. Oder bewusst verschlossen gehalten wurden. James Wescott war der mächtigste Mann der Talamadre. Wenn er darüber nicht Bescheid wusste, wer sollte dann was wissen? Wer sollte ein falsches Spiel spielen? Außer ihm selbst. Dafür sprach ja auch, dass er behauptete, sich nicht erinnern zu können. Lucas' Kopf fing an, zu qualmen. Für die Art Verschwörung war es noch zu früh am Morgen.
„Es ist kompliziert, ich weiß. Aber ich bin mir sicher, dass die Antworten auf die Fragen nicht hier zu finden sind“, kam Mr. Wescott zurück auf seine Flugabsichten. Oder waren es Fluchtabsichten?
„Sie gehen ins Hauptquartier zurück? Mit Ms. Martin zusammen?“, hakte Lucas interessiert nach. Was blieb ihm anderes, als Galgenhumor?
„Nein. Ms. Martin und ich reisen erstmal nach Leyburn. Ich habe da den Ansatz einer Spur, der ich nachgehen will. Sie können mich über mein Mobiltelefon jederzeit erreichen. Wir werden uns bei Ihnen melden, so oft es geht.“
Lucas nahm den Zettel mit Wescotts Nummer entgegen. Nicht unbedingt eine Telefonnummer, die in sein Beuteschema passte. Doch so langsam begann er zu akzeptieren, dass die Talamadre ein gewaltiges Problem hatten. Entweder verlor der Obere den Verstand, oder aber ... oder aber alles war in bester Ordnung und Lucas musste bloß glauben, dass der Mann vor ihm, tatsächlich sowas wie Gefühle besaß.
„Wie verfahren wir hier, Sir? Was sind Ihre Order?“ Lucas entschied sich dafür, das zu tun, was jemand wie Jerry in dem Moment getan hätte. Sich einzig und allein auf die Anweisungen des Oberen zu konzentrieren und jegliche Vermutungen ignorieren. Wobei Jerry sicher nicht mal aufgefallen wäre, wie anders sich James Wescotts verhielt. Wie auch? Jerry hielt sich im Gegensatz zu Lucas an die Vorschriften und hätte Lucas nicht dagegen gehandelt und auf eigene Faust eine Heilerin für Rhylee organisiert, dann wäre ihm ganz entgangen, wie der Obere unerwarteter Weise seinen Verstoß ignorierte. Ihn sogar befürwortete und jetzt unterstützte. Eine 180 Grad Wendung. Okay, es fiel ihm wirklich schwer sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und alles andere zu übersehen.
„Ihre oberste Priorität ist, Ms. Buchanan zu retten.“ Mit den Worten riss James ihn zurück ins Gespräch. Er bestätigte, dass Lucas sich nicht verhört hatte. Er sollte Rhylee retten.
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