„Mein unmögliches, biestiges Verhalten, als du mich besucht hast, natürlich. Ich war furchtbar und es tut mir so schrecklich leid. Auch das ich solange gebraucht habe, um es dir zu sagen. Ich hätte es viel früher tun sollen. Aber …“
„Aber?“, fragte er nach und die Zärtlichkeit in seiner Stimme ließ sie leise schluchzen. Sie schluckte das Geräusch, um Michael keinen Anlass zu geben, sich zu sorgen. Wenn sie ihren Bruder richtig einschätzte, setzte er sich sonst ins nächste Auto und kam sie holen. Wenn er das nicht sowieso tun würde. Sie war für ihn plötzlich erreichbar nah und sie konnte sich denken, dass er diese unerwartete Möglichkeit nicht einfach so vorbeiziehen lassen würde.
„Aber ich habe so lang gebraucht, bis ich zur Vernunft gekommen bin.“
„Hm“, erwiderte er, ohne das Holly seine Reaktion deuten konnte. War er enttäuscht von ihrer Antwort?
Sie wäre es gewesen. Also riss sie sich zusammen und einigte sich spontan darauf, ihm die halbe Wahrheit zu sagen. So viel wie sie eben konnte.
„Es ist schwer zu erklären, Michael. Ich bin mir nicht sicher, ob es nicht noch viel schwieriger ist, das zu verstehen, was in den letzten Wochen mit mir los war. Irgendwie war ich in einer Welt gefangen, die nichts mit der Realität zu tun hatte. Manchmal durchlebe ich einfach immer wieder das, was in Ägypten passiert ist. Dann wieder gab es Tage, da habe ich dagesessen und an gar nichts gedacht. Bloß vor mich hingestarrt. Es war ein Existieren in einer Blase. Die Realität drang gar nicht zu mir durch und ich würde gerne behaupten, es sei anders gewesen, aber an euch habe ich in dieser Zeit überhaupt nicht gedacht. Es war als hätte es euch nicht gegeben. Als sei ich ganz allein. Da und doch auch weit weg. So weit weg.“
Diese Notlüge kam ihr stolpernd über die Lippen. Sie konnte Michael nicht den wahren Grund nennen, weswegen sie unendlich oft an ihre Familie gedacht, sich aber nie getraut hatte, sie anzurufen. Besser also, er glaubte ihr, dass sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen war. So weit weg von der Wahrheit war das auch wieder nicht.
„Das hört sich furchtbar an, Holly.“ Aufrichtige Sorge klang in seiner Stimme. „Du klingst, als ginge es dir besser. Geht es dir besser?“
Sie lächelte. Die Tränen waren getrocknet und die Haut im Gesicht spannte. Sie rieb sich mit der freien Hand über die Wangen. „Ja. Es geht mir besser, Michael. Wirklich“, setzte sie hinterher und weil es stimmte, hörte sie sich auch überzeugt an.
„Ich bin froh. Sehr froh, Schwesterherz. Du glaubst nicht wie viele Sorgen ich mir gemacht habe. Carol natürlich auch.“
„Und Ma und Dad?“, fragte sie vorsichtig. Sie fürchtete sich vor der Antwort. Wie Michael richtig angemerkt hatte, konnte ihre Mutter unglaublich stur sein. Wenn sie beschlossen hatte, wütend auf sie zu sein, würde Holly ihre Meinung nur schwer ändern können. Aber wahrscheinlich hätte sie es auch nicht verdient, dass ihre Familie es ihr all zu leicht machte.
„Du kennst die beiden doch. Was glaubst du, wie sie reagiert haben, nachdem ich vor Weihnachten allein zurückkam? Ohne dich und früher als versprochen.“
„Sie müssen sehr wütend gewesen sein, oder?“, versuchte sie es zögernd. Allzu genau wollte sie es sich eigentlich gar nicht vorstellen.
„Natürlich waren sie das. Nur nicht auf dich, sondern auf mich.“
„Oh“, kommentierte sie kleinlaut, was sie hätte wissen müssen.
„Ich erinnere mich, dass Ma behauptet hat, ich hätte zu leicht aufgegeben. Sie wäre nicht ohne dich zurückgekommen. Selbst wenn sie dich an den Haaren hätte herbeiziehen müssen.“
Der Humor in seiner Stimme konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Michael immer noch verletzt davon war, was seine Eltern ihm alles an den Kopf geworfen haben mussten. Wegen ihr.
„Michael“, sie seufzte. „Es tut mir leid. Ma konnte nicht wissen, wie schlecht es mir wirklich ging.“
„Das Gegenteil war der Fall. Sie wusste es ganz genau und deswegen war sie auch so wütend. Wenn es ihr besser gegangen wäre, wäre sie vermutlich wirklich bei dir aufgekreuzt und hätte dich hergebracht.“
Ihre Mutter war eine gut aussehende, zierliche und elegante Frau. Die Geburt ihrer beiden Kinder war spurlos an ihr vorbeigegangen und wenn die Sprache darauf kam, gab Danielle vor, es läge an ihren französischen Wurzeln. Was immer es war, ihre Mutter sah mit mitte fünfzig noch immer zehn Jahre jünger aus. Holly erinnerte sich daran, das ihr Vater gerne darüber scherzte, was für ein glücklicher Zufall es sei, dass seine Frau auf langweilige Historiker und intelligente Brillen stände. Andernfalls hätte ein unscheinbarer Mann wie er nie eine Chance bei ihr gehabt. Dabei untertrieb er. Ihr Vater war eine eindrucksvolle Gestalt. Nicht unbedingt, weil er gut aussah, wobei er Danielles Meinung nach gut genug aussah. Es war sein Charisma und die Art, wie ihr Vater redete, die andere in dem Bann schlug. Seine ruhige, melodiöse Stimme. Der Witz in den Augen, der ihm einen ganz eigenen Charme verlieh. Außerdem behauptete ihre Mutter immer, niemand könne so perfekt englischen Tee kochen, wie er. Lady Grey war die große Schwäche ihrer Mutter. Lady Grey und süße Nascherei. Ihre Mutter liebte das Backen und Holly konnte sich an keinen einzigen Tag erinnern, an dem sie nicht irgendeine Köstlichkeit hervorgezaubert hatte. Dabei probierte sie sämtliche Rezepte der englischen Traditionsküche aus, sowie moderne Rezepte, eigene Kreationen und natürlich war auch die Heimatküche Frankreichs nicht vor ihr sicher. Als Holly noch zur Schule gegangen war, hatte das unglaublich zu ihrer Beliebtheit beigetragen. Hollys Freundinnen rissen sich darum, mit zu ihr nach Hause zu dürfen. Dort gab es immer etwas zu naschen und ihre Mutter hatte nie damit gegeizt. Wichtig war ihr, dass ausreichend Sport betrieben wurde. Lange Spaziergänge und nicht zu vergessen die Ertüchtigung im Garten. Denn Danielles Rosen waren mindestens so berühmt wie ihre Backfähigkeiten. Als man Anfang letzten Jahres Diabetes bei Danielle diagnostiziert hatte, hatte sie sich geweigert ihren Genuss aufzugeben. Trotz ihrer Spritzen und strengen Kontrollen, war ihr Zuckerwert oft zu hoch und sie wurde schon mehr als einmal wegen Brechreiz und Ohnmachtsanfällen, ins Krankenhaus eingeliefert. Überhaupt hatten die Ärzte die Krankheit nur erkannt, weil sie aufgrund der Überzuckerung Herzrasen hatte und Hollys Vater damals befürchtet hatte, sie hätte einen Herzinfarkt. Doch egal wie sehr alle auf sie einredeten und sie ermahnten, die Anweisungen der Ärzte zu befolgen, ihre Mutter hielt sich an ihre eigenen Regeln und ließ sich von niemanden reinreden.
„Wie geht es ihr denn?“, fragte Holly vorsichtig, als Michael nicht von sich aus weiter auf die Gesundheit ihrer Mutter einging.
„Um Weihnachten herum war es ziemlich schlimm. Sie hat Plätzchen gebacken, als wollte sie eine ganze Konditorei beliefern. Und wohl auch viel zu viele davon selbst gegessen. Sie haben sie zwei Wochen im Krankenhaus behalten. Im Januar war sie dann vorbildlich brav, was wohl auch daran lag, das Dad sich freigenommen hat und sie wie ein Jagdhund in der Küche verfolgte. Aber vor zwei Wochen hatte sie wieder einen Rückfall. Sie haben sie dieses Mal schon nach einer Woche entlassen, aber wenn sie so weitermacht, riskiert sie noch ihre Gesundheit.“
Was Michael nicht aussprach, aber meinte, war, dass ihre Mutter mit ihrem Leben spielte. Holly wusste, dass das Unsinn war und doch konnte sie das Schuldgefühl nicht verhindern, das in ihr aufstieg. Sie hatte bestimmt nicht dazu beigetragen, es ihrer Ma einfacher zu machen. Bei den Sorgen, die sie Hollys wegen gehabt hatte, war es nur natürlich, dass sie sich ins Backen und ins anschließende Essen geflüchtet hatte.
„Mach dir keine Gedanken.“ Michael hatte erraten, was ihr durch den Kopf ging.
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