„Was jetzt?“, nahm sie es ihm ab, die Stille zu überbrücken.
„Jetzt gehen wir da vorne hin.“ Er deutete aus dem Bahnhofshaus über die Straße. „Von da fährt der Bus in Richtung Colburn ab.“
„Erinnerst du dich daran?“, wollte Holly wissen, während sie ihm hinaus folgte. Die Straße war menschenleer.
Er blieb stehen. „Nein, ich habe es im Internet recherchiert und einen Reisenden im Zug gefragt.“ Er drehte sich zu Holly um. „Willst du erst etwas essen, bevor wir weiterfahren?“
„Wie weit ist es denn noch?“
„Etwa eine halbe Stunde, dann steigen wir noch mal in einen Bus Richtung Ripon. Ich schätze, wir werden gegen halb drei in Leyburn sein.“
„Dann lass uns gleich weiter fahren. So kommen wir pünktlich zum Tee.“
Holly hatte ihnen noch in Miami ein Zimmer in einer Pension in Leyburn gebucht. Laut ihrer Auskunft lag die Pension zentral und Mrs. Millham hatte einen freundlichen Eindruck am Telefon gemacht. James war es egal, wo sie unterkamen. Er hoffte nur, dass sich der Aufwand lohnte und er fand, was er suchte.
Sie hatten Glück. Sie brauchten nur fünf Minuten warten, bevor der Bus kam und sie waren bis auf eine Familie und zwei ältere Ehepaare die einzigen Mitreisenden. Die halbe Stunde verging im Flug und schließlich stiegen sie in den letzten Bus für heute, der sie bis nach Leyburn brachte. Exakt um 14:15 stiegen sie als Einzige aus und James sah sich abwartend auf dem Marktplatz um. Er hatte nicht erwartet, sofort etwas zu erkennen, aber er war dennoch enttäuscht, dass das vertraute Gefühl ausblieb, welches er in London verspürt hatte.
„Erwarte nicht zu viel von dir. Gib dem Projekt etwas Zeit.“
„Dem Projekt?“
„Ich dachte, das klingt weniger gefährlich.“ Holly lächelte unsicher.
„In Ordnung“, beruhigte er sie. „Warum nicht. Ich schätze, es gibt Schlimmeres, als dein Projekt zu sein.“
„Mein Projekt? Ich meinte, deine Erinnerungen zu suchen, das ist dein Projekt.“
Jetzt lächelte er sie an. „Ich weiß, was du meintest, Holly.“ Er schwieg und sah sie an, bis sie leicht errötete.
„Und ich schätze, ich weiß, was du meinst.“
Zufrieden nahm er die Koffer. „Wohin müssen wir? Ich hoffe, du hast dir Mrs. Millhams Wegbeschreibung gemerkt. Es sieht nämlich nicht so aus, als könnten wir hier jemanden fragen.“
Aber das war nicht nötig. Holly hatte eine gute Wahl getroffen. Die Pension lag nahe dem Marktplatz und sie hatten sie nach nur fünf Minuten erreicht. Er folgte Holly in den Flur des Hauses. An dessen Ende stand eine Art Tresen, der nicht besetzt war. Holly klingelte mit einem altmodischen Glöckchen und ein paar Augenblicke später kam eine ältere Dame aus einem angrenzenden Zimmer heraus. Sie sah aus, als sei sie aus einem altenglischen Film entsprungen. Sie hätte hervorragend zu Aldwyn gepasst und somit war ihm die Überraschung über Mrs. Millhams weiße Haube und die gestärkte Schürze in gleicher Farbe weit weniger anzusehen, als Holly.
„Oh wie nett. Sie müssen Mr. und Mrs. Wescott sein, ja?“
Das allerdings traf ihn völlig unerwartet. Bevor er die Dame korrigieren konnte, sprang Holly ein.
„Ja, genau.“ Sie reichte Mrs. Millham die Hand, die diese erfreut schüttelte.
„Willkommen in Leyburn. Sind sie zum ersten Mal hier?“
„Ja.“ Holly erklärte, dass sie in Miami lebten, aber James Familie in Nordengland hatte. „Er hat immer so von der schönen Landschaft geschwärmt, dass ich mich nun selbst überzeugen muss.“
Mrs. Millham lächelte stolz. „Sie werden keinen schöneren Flecken Erde finden, Mrs. Wescott.“
James zuckte unwillkürlich zusammen. Der Klang von Hollys Namen mit diesem Nachnamen war so völlig falsch, dass es ihm in den Ohren wehtat.
„Kommen sie. Ich zeige ihnen erstmal ihr Zimmer. Dann bereite ich den Tee für sie zu. Kommen sie einfach herunter, wenn sie fertig sind. Das Esszimmer liegt links vom Flur.“
Mrs. Millham führte sie eine Treppe hinauf und bis zum Ende des Flurs. „Die erste Tür ist bloß eine Abstellkammer, da vorne liegt das Schlafzimmer. Das Bad ist innenliegend und ich selbst schlafe unten. Sie sind also völlig ungestört hier oben.“ Sie zwinkerte und James folgte Holly in das Zimmer. Es war klein, aber typisch englisch. Das Bett machte einen weichen Eindruck und war mit einer Tagesdecke in Rosenmuster geschmückt. Weiße Kissen mit Spitze standen frisch aufgeschlagen am Kopfende, während am Fußende ein Set weißer und hellblauer Handtücher lag, sowie ein Stück Seife. Auf der Kommode standen ein Wasserkocher, zwei Tassen und eine Schale mit Teebeuteln. Der Duft des Earl Greys war unverkennbar und verströmte seinen Bergamotte Duft im ganzen Zimmer.
Sobald Mrs. Millham sie allein gelassen hatte, sah er Holly abwartend an.
„Sie hat nur dieses Doppelzimmer“, erklärte sie. „Und Mrs. Millham wollte ihr Zimmer bloß an ein Ehepaar vermieten. Ich dachte, es sei dir egal.“
„Mit dir in einem Bett zu schlafen?“ Er brachte diese Frage viel selbstsicherer hervor, als er sich fühlte.
Seine Direktheit brachte Holly in Verlegenheit und seine Worte taten ihm augenblicklich leid. „Es ist schon in Ordnung“, gab er zu.
„Wirklich?“
„Sehen wir es als Meilenstein des Projekts.“
Holly sah ihn an und dann fing sie an zu lachen. Erst leise und dann immer lauter und schließlich konnte er sich dem nicht entziehen. Er lachte nicht, aber das Lächeln auf seinem Gesicht war so ausgeprägt, dass er es selbst deutlich spürte.
Sie packten nicht aus, das konnte warten. Stattdessen ging Holly auf die Toilette, er hing seinen Mantel ordentlich auf, und als Holly wieder zurück war, gingen sie gemeinsam hinunter, um Mrs. Millhams Einladung zum Tee zu folgen.
Holly
“ You have no idea how much I missed you.”
Leyburn, 12.03.2017
Mrs. Millham hatte nicht übertrieben, als sie Holly am Telefon versichert hatte, dass sie ausgezeichnete Scones servierte und es für sie beide daher keinen Grund gäbe, zum Tee in ein Café zu gehen. Die Clotted Cream war so vertraut und köstlich, dass Holly noch einen zweiten Scone dick mit Clotted Cream bestrichen aß, obwohl sie längst satt war. Mit einem Lächeln stellte sie nebenbei fest, dass auch James Mrs. Millhams Backkünsten nichts entgegenzusetzen hatte. Er aß nämlich schon den dritten Scone und trank gerade die zweite Tasse Tee. Was vielleicht auch daran lag, das Mrs. Millham, die sich zu ihnen gesetzt hatte, James‘ Tasse und seinen Teller jedes Mal füllte, sobald er fertig war.
Als sie erneut zu den Scones auf der Etagere griff, erkannte Holly so etwas wie den Anflug von Panik in seinen Augen. Sie grinste ihn unverblümt an.
„Danke, Mrs. Millham, aber ich muss wirklich protestieren.“
„Ach ja?“
„Ja. Obgleich ich schon lange nicht mehr so vorzügliche gegessen habe, bin ich so satt, dass ich beim besten Willen nichts mehr essen kann.“
Sie lachte kokett. „Sie sollten abwarten, bis Sie mein Abendessen gekostet haben, Mr. Wescott. Ich bin eine ebenso gute Köchin wie Bäckerin.“
„Wenn das so ist, muss ich aufpassen, dass ich nach meinem Aufenthalt noch in meine Hosen passe.“
Sie schnalzte mit der Zunge. „Sie sind eh viel zu dünn. Die amerikanische Küche ist eben nicht gut. Das habe ich meiner Tochter auch immer gesagt.“ Sie schüttelte den Kopf. „Aber sie ist trotzdem mit einem Amerikaner durchgebrannt. Lebt nun in New York und ich sehe meine Enkelkinder bloß zu den Feiertagen.“
Sie sah traurig aus und Holly griff spontan zu der Hand der älteren Dame, die sie auf Mitte sechzig schätzte. „Das tut mir leid. Sie müssen sie sehr vermissen.“
„Das ist wahr. Maggie sagt, es gäbe Skyp oder Skype oder so etwas. Da könnte ich die Kinder über den Computer sehen. Mit einer Computerkamera.“
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