Holly lächelte. „Ja, das habe ich mit meinem Bruder auch so gemacht.“
Sie sah den fragenden Blick und erkannte sofort, was die ältere Frau wissen wollte.
„Meine Familie lebt in Scarborough. Ich sehe sie mehr als einmal im Jahr, aber dennoch nicht oft genug.“
„Wenn sie mich fragen, sollten sie in Miami ihre Sachen packen und zurück nach Hause kommen. Da drüben gibt es nichts, was sie hier bei uns nicht auch finden. Und der Tee ist um einiges besser.“
James lachte bei Mrs. Millhams Worten und es überraschte Holly nicht, wie losgelöst es klang. Seitdem er ihr die Wahrheit über das gesagt hatte, was ihm passiert war, wirkte er in ihrer Gegenwart ungezwungener. Ab und an geschah es noch, dass er sich hinter seine gewohnte Mauer zurückzog und Holly spürte, wie schwer es ihm fiel, den Schutz der jahrelangen Sicherheit zu verlassen. Aber er tat es. Das war es, was zählte.
„Na ja.“ Mrs. Millham stand auf. „Wenn sie fertig sind, räume ich ab und kümmere mich in der Küche um den Abwasch. Essen sie zu Abend hier?“
Fragend sah Holly zu James.
„Danke, Mrs. Millham. Wir können Ihre Kochkünste kaum ungetestet lassen.“
Sie lächelte erfreut und ließ sie beide allein. Holly wartete, bis die ältere Dame auch wirklich außer Hörweite war, bevor sie sich wieder an James wandte.
„Was machen wir jetzt?“, fragte sie geradeaus. Mit ihm hatte es wenig Sinn um den heißen Brei herumzureden. Nicht, wenn sie eine klare Antwort, statt einer Ausrede wollte.
„Als erstes solltest du deine Familie anrufen.“
„Bist du sicher?“ Holly knetete nervös die Finger. James hatte sie schon gestern gefragt, ob sie ihnen nicht Bescheid sagen wollte. Aber da hatte sie behauptet, so viel anderes zu tun zu haben, was im Augenblick wichtiger war. Mit dem Buchen der Pension, dem Packen und dem Verarbeiten dessen, was James ihr offenbart hatte, war es keine Ausrede gewesen. Selbst James hatte das eingesehen und nachgegeben. Gerade fiel Holly jedoch kein Grund ein, der gegen einen Anruf sprach. Außer ihre eigenen Angst.
„Holly.“ James lächelte sanft. „Du solltest das wirklich nicht länger hinauszögern. Es ist an der Zeit. Gib ihnen die Chance, dich in Sicherheit zu wissen. Zu hören, dass es dir gut geht. Wir können immer noch bei ihnen vorbeifahren und sie ein bis zwei Tage besuchen, wenn du das möchtest.“
„Ich weiß nicht.“ Sie seufzte. „Mit Satek und allem halte ich das für keine gute Idee. Ich möchte sie nicht in Gefahr bringen.“
„Mit mir in deiner Nähe bist du nicht in Gefahr und das gilt auch für deine Familie.“
Gestern hatte sie noch das Zögern in seiner Stimme gehört. Er hatte sogar selbst davon gesprochen, dass er sich nicht sicher war, ob es klug war, sie mitzunehmen. Immerhin durften sie nicht vergessen, dass Satek ihnen eine Falle gestellt haben könnte.
„Ich weiß, was du denkst.“
„Sieht man mir meine Gedanken so deutlich an?“
„Hätte er uns etwas tun wollen und dieser Hinweis mit Leyburn wäre eine Falle gewesen, wären wir längst tot.“
Sie wartete ab, aber er sprach nicht weiter. „Du wirkst trotzdem nicht entspannt.“
„Es könnte nach wie vor eine Falle sein. Sei es, weil ich das, was wir finden, nicht finden will und Satek sich davon Vorteile erhofft, oder sei es, weil er glaubt, an die anderen Talamadre besser heranzukommen, wenn ich nicht in Miami bin. So oder so wird es sich zeigen. Aber ich bin überzeugt, dass deiner Familie keine Gefahr droht.“
Als er ihren Blick suchte, schlich sich ein Lächeln auf die schmalen Lippen. „Schon gar nicht von einem Anruf.“
Sie schüttelte geschlagen den Kopf. „Du verstehst dich blendend darauf, die Leute um dich herum genau dahin zu bekommen, wo du sie haben willst. Ich wüsste nicht, wie ich jetzt noch nein sagen könnte.“
„Das liegt an meinen Argumenten. Du weißt, dass ich recht habe.“ Er hielt ihren Blick und es war Holly, die schließlich den Kopf wegdrehte.
„Ruf jetzt gleich an. Du kannst mein Handy nehmen. Es ist oben in meiner Jackentasche.“
„Und was ist mit dir?“
„Ich sehe mich hier ein wenig um und komme später aufs Zimmer.“
„Wollen wir heute nicht mehr gemeinsam in den Ort?“
„Nein, heute nicht mehr. Es waren zwei sehr lange Tage mit wenig Schlaf. Lass uns ein wenig ankommen, nachher zu Abend essen und früh schlafen gehen.“ Jetzt wich er ihrem Blick aus. „Das wird ...“ Er brach den Satz ab und Holly brauchte ein paar Sekunden, bis ihr klar wurde, warum.
Sie errötete. „Stört dich das mit dem Bett wirklich nicht?“
„Nun, ich würde es vorziehen auf dem Sofa zu schlafen, gäbe es das. Aber ich schätze die Alternative bleibt mir diesmal nicht.“
„Es tut mir leid, James.“
„Nicht doch.“ Er schüttelte den Kopf. „Mach dir bitte keine Gedanken. Geh nach oben, ruf deine Familie an und ich komme nach.“
Sie verstand langsam. Er wollte ein paar Minuten für sich sein. Die Eindrücke verarbeiten, vielleicht planen, wie sie weiter vorgehen sollten. Es waren seine Erinnerungen, die sie hier zu finden hofften und nicht ihre. Nur er allein konnte daher sagen, was sie als Nächstes tun mussten.
„Na schön.“ Sie stand auf. „Dann gehe ich jetzt und rufe meine Familie an.“
Sie wünschte, sie hätte die Sicherheit tatsächlich empfunden, die sie vorgab. Als sie auf ihrem Zimmer war und die Tür fest hinter sich geschlossen hatte, fühlte sie nichts mehr davon. Die Nervosität wuchs dagegen, als sie in James' Jacke nach dem Handy griff und auf die Tasten starrte.
Holly erinnerte sich daran, wie sie sich selbst geschworen hatte, nicht mehr wegzurennen und tippte schließlich doch noch entschlossen die Nummer ihres Bruders ein. Mit klopfendem Herzen lauschte sie dem Freizeichen.
Als Michael abnahm, zitterte ihre Stimme. „Michael? Ich bin es, Holly.“
Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. Sie hörte ihren Bruder einatmen. Langsam und tief.
„Es tut mir leid. So schrecklich Leid. Ich weiß, du bist wütend und enttäuscht aber bitte leg nicht auf.“ Sie holte Luft. Ihre Stimme hatte sich überschlagen, als ihr die Worte einfach so herausgerutscht waren. Sie purzelten wie Steine von ihrem Herzen. Es war am Ende doch viel einfacher, den ersten Schritt zu machen, als sie geglaubt hatte.
„Michael?“, fragte sie nach, als sie immer noch keine Reaktion hörte. Leiser. Die Unsicherheit griff wieder nach ihrem Herzen. Und die Angst. Was, wenn er ihr nicht vergeben wollte? Was, wenn James sich geirrt hatte und ihre Familie sich nicht freute, von ihr zu hören? Sie hätte es verdient gehabt, nachdem wie sie sie von sich gestoßen hatte.
„Gott sei Dank.“
„Was?“
„Ich bin so froh, dass du anrufst.“ Sie hörte ihn lachen und bei dem vertrauten Klang spürte Holly, wie sich der Knoten in ihrer Brust auflöste und Freude wie Gold durch ihren Körper floss. Leuchtend, rein und warm.
„Du freust dich?“
„Natürlich. Du ahnst nicht, welche Sorgen wir uns gemacht haben. Ich meine, ich wusste ja, dass du deine Ruhe wolltest und wir alle kennen deine Starrköpfigkeit. Die hast du von Ma. Dennoch.“ Michael schwieg jetzt wieder und atmete durch. „Es tut so gut, deine Stimme zu hören.“
Ihr entkam ein Seufzer. Tränen rannen über ihre Wangen, aber sie wischte sie nicht fort. Sie taten gut. Eine Welle der Erleichterung trug sie und gab ihr das Gefühl zu schweben.
„Also verzeihst du mir?“
„Was?“ Michael klang überrascht. Jedenfalls soweit sie das seiner Stimme entnehmen konnte. Aber anderseits war ihr Bruder immer schon offen mit seinen Gefühlen gewesen. Und er war nicht nachtragend. Trotzdem fühlte sich die Möglichkeit, dass er ihr vergeben hatte, zu verlockend an, als das Holly sie einfach so hinnehmen konnte.
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