15.00 Uhr
Die Bühne war dekoriert, alle Buden waren längst aufgebaut und eingeräumt, die Silvesterparty auf dem Mühldorfer Stadtplatz konnte pünktlich in einer Stunde losgehen. Die Polizisten waren auf ihren Posten. Alles war perfekt, nur das Wetter spielte nicht ganz mit. Schon den ganzen Tag über pfiff ein schneidend kalter Wind, der sehr unangenehm war. Darüber hinaus war Eisregen angesagt, der den Einsatz nicht gerade erleichtern würde.
Leo Schwartz war wieder viel zu leicht angezogen. Er trug zwar einen dicken Pulli unter der Lederjacke, den ihm seine Ersatzmutter und Vermieterin Tante Gerda zu Weihnachten geschenkt hatte, aber der reichte gegen die Kälte nicht aus. Während alle anderen mit langen Unterhosen, dicken Stiefeln, Mütze, Schal und Handschuhen ausgestattet waren, hatte Leo wie immer nur Jeans und Cowboystiefel an. Mütze, Schal und Handschuhe besaß er nicht. Und wenn doch, dann hatte er keine Ahnung, wo er danach suchen sollte.
„So willst du die Nacht überstehen?“, sagte Hans, der warm eingepackt war und den Leo kaum wiedererkannte. Die Mütze war tief ins Gesicht gezogen. Die dicken Stiefel und die gefütterte Hose hatte Leo noch nie bei ihm gesehen.
„Ist das eine Skihose?“
„Klar! Wenn der Mist hier vorbei ist, möchte ich mit meiner Anita zu einem romantischen Wochenende nach Kärnten fahren. Denkst du, ich möchte eine Erkältung riskieren? Zieh dich um, du wirst sonst krank.“
„Ich werde nie krank. Schwaben sind von Natur aus sehr robuste Typen“, maulte Leo zurück.
An beiden Stadttoren warteten schon unzählige Gäste, die es kaum erwarten konnten, endlich ins neue Jahr feiern zu dürfen. Punkt sechzehn Uhr begann der Einlass. Die Mengen, unter denen sich auch Diana Nußbaumer, ihr Bruder und dessen Frau Eva befanden, stürmten den Stadtplatz und bevölkerten sofort die Buden, an denen Alkohol ausgeschenkt wurde. Durchsuchungen konnten aufgrund des Andrangs nur stichpunktartig ausgeführt werden. Noch klang laute Musik aus den Lautsprechern. Eine dreiviertel Stunde später betrat die Band die Bühne, die lautstark begrüßt wurde. Leo kannte die Band nicht. Er konzentrierte sich darauf, die Leute um sich herum zu beobachten. Längst wusste er, dass er auf Hans hätte hören sollen, denn er fror entsetzlich. Ob er die Silvesternacht ohne Erkältung überstand, stand in den Sternen.
Die Kameraden der Blauen Armee hatten sich vor dem Einlass ganz nach vorne gedrängelt. Hätten sie gewusst, dass nicht alle Personen zugelassen wurden, wären sie misstrauisch geworden. So schöpften sie keinen Verdacht. Den Kontrollen, die sie erwartet hatten, konnten sich viele geschickt entziehen. Drei von ihnen wurden wegen ihrer mitgeführten Messer und Schlagringe sofort festgenommen, was die anderen nicht mitbekommen hatten.
Enttäuscht und fluchend gingen diejenigen, denen der Einlass verwehrt wurde.
Um dreiundzwanzig Uhr konnte die geplante Aktion der Gruppe endlich losgehen. Zuerst wurden nur kleine Silvesterknaller gezündet, obwohl jegliches Feuerwerk verboten war. Dann gab es größere Böller, die direkt in die Menge geworfen wurden, darauf folgten Raketen – an manchen Stellen reagierten die Leute panisch. Es gab erste Verletzte. Die Polizisten wurden nervös und versuchten umgehend herauszufinden, wer die Schuldigen waren. Durch Augenzeugen konnten einige wenige festgenommen werden, andere tauchten in der Menge unter.
Dann kam Stufe zwei. Die Kameraden bedrängten Frauen, wobei das Alter unerheblich war. Es ging nur darum, Unruhe zu stiften und auf dem ganzen Platz Streitigkeiten vom Zaun zu brechen. Es gab nicht wenige Schlägereien, die auch aufgrund des erhöhten Alkoholkonsums ausarteten. Es dauerte nicht lange, und die Polizei hatte alle Hände voll zu tun. Die Anzahl der Verletzten stieg.
Diana Nußbaumer hatte schon vorher gespürt, dass hier etwas nicht stimmte. Als die Übergriffe losgingen, achtete sie nicht auf sich, sondern vor allem auf ihre Schwägerin Eva, die im dritten Monat schwanger war. Um sich selbst machte sich Diana keine Sorgen, sie konnte sich als Kampfsportlerin sehr gut wehren. Aber Eva war den Übergriffen schutzlos ausgeliefert, denn sie war klein und schmächtig – und darin war sie ihrem Mann, Dianas Bruder Konstantin, sehr ähnlich. Er würde keine große Hilfe sein, deshalb musste sich Diana um Eva kümmern. Es dauerte nicht lange und einer grabschte Eva an. Ein anderer versuchte, sie zu küssen. Diana holte aus und schlug beiden Männern ins Gesicht. Zwischen Diana und einem der Männer gab es ein kurzes Handgemenge, bis der endlich klein beigab und abhaute. Diana versuchte, ihren Bruder und Eva aus der Menschenmenge herauszuführen. Sie war gezwungen, zwei weitere Schläge zu verteilen, bis sie endlich an einer Hausmauer angekommen waren.
„Ihr bleibt hier stehen, verstanden?“ Sie stellte sich schützend vor die beiden. Angespannt wartete sie auf den nächsten Übergriff, der sicher nicht lange auf sich warten ließ. Was war hier nur los?
Es war kurz vor Mitternacht und Charly Eckmann, der selbst nicht aktiv eingriff, wurde nervös. Jetzt war für ihn die Zeit gekommen, das Banner am südlichen Stadttor zu entrollen, dass er dort vor drei Tagen angebracht hatte. Es war leicht gewesen, sich als vermeintlicher Monteur Zugang zu verschaffen. Niemand schöpfte in dem unterbesetzten Rathaus Verdacht, als er seinen gefälschten Auftrag vorlegte. Er bekam die Schlüssel, alles andere war eine Kleinigkeit. Mit einem raffinierten Mechanismus, den er mit seinem Handy auslösen konnte, prangten jetzt riesige Buchstaben auf dem Banner, die von zwei Scheinwerfern angestrahlt wurden:
DIE BLAUE ARMEE KÄMPFT FÜR DEUTSCHE RECHTE
stand dort. Als viele der Gäste auf dieses Banner starrten, wurden an mehreren Stellen bengalische Feuer gezündet, die Panik verursachten. Die Polizei hatte alle Hände voll zu tun, um die Situation im Griff zu behalten, was für alle sehr schwierig war.
Wolf Perlinger starrte auf das Banner. Er hatte vor einer Woche in Charlys Garage eine helle Stoffrolle gefunden, hatte aber nicht die Zeit gehabt, sich diese genauer anzusehen. Die Größe passte. Er war überrascht und beeindruckt, wie clever Charly war. Es war gut gewesen, den Mann niemals zu unterschätzen.
Diana wurde von einem Mann grob angefasst, was sie sich nicht gefallen ließ. Sie vermöbelte den Mann, der nach wenigen Schlägen weinend auf dem Boden lag. Ein zufällig vorbeikommender Polizist verhaftete sie. Sie versuchte, ihm die Situation zu erklären, aber der Polizist interessierte sich nicht dafür. Diana wurde abgeführt.
„Macht, dass ihr nach Hause kommt!“, rief sie ihrem Bruder zu.
„Was ist mit dir? Sollen wir nicht mitkommen?“
„Keine Sorge, das klärt sich. Zuhause kein Wort, verstanden?“ Mehr konnte sie nicht sagen, der Polizist zog sie grob mit sich.
Die Polizisten räumten gründlich auf. Nach zwei Stunden war der Stadtplatz leer und die Arrestzellen der Mühldorfer Polizei rappelvoll. Die Notärzte hatten alle Hände voll zu tun und die Notaufnahme des Krankenhauses platzte aus allen Nähten. Zum Glück setzte erst jetzt der erwartete Eisregen ein.
„Das hätte ins Auge gehen können“, sagte Leo halb erfroren. Die Decke, die ihm einer der Sanitäter vor einer halben Stunde überreichte, hatte er gerne angenommen.
„Ist alles nochmal gutgegangen“, antwortete Hans erschöpft.
Auf dem Weg zu ihrem Fahrzeug fuhren drei Löschzüge der Feuerwehr mit Blaulicht und Sirene an ihnen vorbei. Sie hatten Schwierigkeiten, auf den immer mehr vereisten Straßen voranzukommen.
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