Es war dunkel geworden, als sie begriff, dass sie etwas tun musste. Eduardo durfte nicht hierbleiben. Wenn man ihn hier finden würde, würde man sie verurteilen und für den Rest ihres Lebens einsperren. Das wollte sie unter keinen Umständen! Sie hatte Filme mit Gefängnissen gesehen. Das waren dunkle, dreckige Löcher, in denen die schwersten Verbrecher eingesperrt waren, zu denen sie nicht gehörte. Nein, sie wollte mit dem Toten nichts mehr zu tun haben, die Leiche musste weg. Aber wie sollte sie das anstellen? Allein schaffte sie das niemals, dafür war sie nicht kräftig genug. Außerdem hatte sie keine Ahnung, wohin sie die Leiche bringen sollte. In ihrer Panik rief sie ihren Cousin an. Er war Polizist und er wusste, was zu tun war.
Christian Pölz wurde schlecht, als er ihre zitternde Stimme hörte.
„Was ist passiert?“
„Er ist tot. Es war ein Unfall, du musst mir glauben!“
„Beruhige dich, Angela! Was ist passiert?“
„Eduardo ist tot. Er wollte weg und wir haben uns gestritten. Ich wollte das nicht, das war ein Unfall!“, schrie sie hysterisch. „Ich will nicht ins Gefängnis, Christian!“
„Du musst die Polizei rufen, Angela! Erklär den Kollegen, was passiert ist. Wenn es ein Unfall war, hast du nichts zu befürchten.“ Christian Pölz versuchte, der aufgebrachten Frau ganz ruhig zu erklären, was sie zu tun hatte, auch wenn er nicht verstand, was eigentlich passiert war. „Reiß dich zusammen und ruf die Polizei“, wiederholte er.
„Man wird mich einsperren! Ich werde ins Gefängnis kommen und nie wieder rauskommen! Du musst mir helfen, Christian, das bist du mir schuldig!“
„Was meinst du damit?“
„Dein Vater hat meine Eltern mit in den Ruin gerissen. Ohne deinen Vater wäre mein Leben ganz anders verlaufen. Du bist mir das schuldig, hörst du? Du musst mir helfen!“
Angela spielte die Trumpfkarte aus, die ihn direkt traf. Ja, er war ihr das schuldig, auch wenn es ihm widerstrebte, vor allem als Polizist. Trotzdem fühlte er sich verpflichtet, ihr zu helfen.
„Unternimm nichts und warte auf mich.“
„Du willst mir wirklich helfen? Ohne Polizei?“
„Ja. Ich bin gleich bei dir.“
Christian war leichenblass geworden. Für einen kurzen Moment dachte er darüber nach, doch die Kollegen zu rufen, verwarf das dann wieder. Angela war Familie und hatte absolut Recht mit dem, was sie sagte. Sie hatte es nicht leicht gehabt, woran vor allem sein Vater Schuld hatte, dessen waghalsigen Geschäfte er ihm auch über den Tod hinaus nicht verzieh. Hätte er sich nicht verspekuliert, wäre Angelas Familie nicht in den Ruin getrieben worden. Wenn es seinen Vater und diese riskanten Geschäfte nicht gegeben hätte, wäre vieles anders gelaufen, aber so war es nun mal, daran konnte er nichts mehr ändern. Christian schämte sich auch heute noch für seinen Vater und fühlte sich jetzt dazu verpflichtet, seiner Cousine zu helfen. Der fremde Mann aus Brasilien war jetzt tot. Dass das ein Unfall war, glaubte er seiner Cousine. Sie war kein gewalttätiger Mensch, sondern eher sanft und gutmütig, vielleicht sogar naiv. Eine Mörderin war sie auf keinen Fall, daran wollte er nicht glauben. Was sollte er jetzt tun? Christian atmete tief durch und versuchte, sich zu konzentrieren. Wer wusste von Eduardo? Wer würde ihn vermissen? Fragen, die er mit Angela später klären musste. Die Leiche musste weg, und zwar für immer. Aber wie sollte er das anstellen?
Christian begann zu zittern und mahnte sich zur Ruhe. Er durfte kein Risiko eingehen und keinen Fehler machten. Eine Identifizierung der Leiche musste er verhindern. Aber wie? Er trank einen Schnaps. Ganz langsam begann er, die Situation nüchtern zu betrachten. Der Brasilianer war tot – wie und warum war jetzt nicht wichtig. Die Leiche musste aus Angelas Wohnung verschwinden und durfte nicht mit ihr in Verbindung gebracht werden. Er erinnerte sich an einen Fall vor einigen Jahren, als es eine Leiche in einem ausgebrannten Wagen gab, die bis heute noch nicht identifiziert worden war. Das war es! Es gab noch den alten Wagen seiner verstorbenen Mutter, den er dafür verwenden konnte. Er verließ die Wohnung, rannte zur Garage und schloss sofort die Tür, denn auf die neugierigen Blicke seiner Nachbarn konnte er gerne verzichten. Zuerst musste er sich vergewissern, dass der Wagen nach der langen Standzeit ansprang. Nach einigen Versuchen hatte er Glück. Sofort schaltete er den Motor wieder aus, schließlich wollte er hier in der geschlossenen Garage nicht draufgehen. Dann entfernte er die Fahrgestellnummer und schraubte die Nummernschilder ab. Große Sorgfalt brauchte er nicht walten zu lassen, schließlich würde der Wagen demnächst in Flammen aufgehen. Er öffnete die Garagentür und setzte sich hinters Steuer. Die Gedanken kreisten um die Leiche. Wenn es stimmte, dass niemand Eduardo kannte und vermutlich auch niemand vermisste, musste er sicher gehen, dass die Leiche nicht anhand des Zahnschemas identifiziert werden konnte. Das konnte er nur verhindern, indem er der Leiche in den Mund schoss. Ob er das überhaupt fertigbrachte? Darüber musste er sich später Gedanken machen. Seine Dienstwaffe konnte er dafür nicht verwenden, das war klar. Dann fiel ihm die alte Waffe seines Großvaters ein. Ob die noch funktionierte? Das musste er riskieren. Er rannte zurück in die Wohnung und nahm die alte Waffe an sich. Sie war nach all den Jahren immer noch geladen, was ihn bisher nicht interessiert hatte. Dann hörte er mehrere Schüsse – das waren Silvesterknaller. Er sah auf die Uhr: kurz nach dreiundzwanzig Uhr. Er trat auf den kleinen Balkon und hörte die Böllerschüsse, die von mehreren Kindern unter grölendem Lachen gezündet wurden. Christian Pölz sah die Waffe an. Ob er es wagen konnte? Warum nicht! Er löschte das Licht in der Wohnung, niemand sollte ihn sehen. Dann legte er an und schoss in die Luft. Ein ohrenbetäubender Lärm machte sich breit. Er wartete einen Moment, dann öffnete sich ein Fenster im Erdgeschoss. Der alte Franzl streckte wieder mal seine Nase raus! Christian verharrte und wartete, was passierte. Zu seiner Überraschung machte der Alte das Fenster wieder zu und nichts geschah. Die Waffe funktionierte – das war alles, was er testen wollte. Jetzt musste er dringend los, denn er traute Angela zu, dass sie in ihrer Panik Dummheiten machte. Unterwegs bemerkte er die Tankanzeige. Verdammt! Es war nicht genug Sprit im Tank! Er musste noch einen Umweg über eine Tankstelle machen, was zusätzlich Zeit kostete. Dass es mittlerweile Mitternacht und somit Silvester war, war Christian egal. Um ihn herum wurden Böller und Raketen gezündet, viele bunte Lichter erhellten den Himmel. Das alles ließ ihn kalt. Christian wusste, welche Tankstelle geöffnet hatte. Nachdem er getankt hatte, kaufte er drei Kanister und befüllte auch diese. Dass er beim Bezahlen der üppigen Rechnung von einem angetrunkenen Mann mit Prosit Neujahr begrüßt wurde, nahm er zur Kenntnis, erwiderte den Gruß aber nicht. Christian war mit seinen Gedanken längst bei dem, was vor ihm lag.
Derweil saß Angela auf der Couch und nagte an ihren Fingernägeln. Beinahe jede Minute sah sie auf die Uhr. Wo war Christian? Über Eduardos Gesicht hatte sie ein Geschirrtuch gelegt, sie konnte seinen Anblick nicht mehr ertragen. Die Leiche musste aus ihrer Wohnung verschwinden, und zwar schnell. Sie wusste nicht, wie lange sie die Situation noch aushalten konnte und nahm Beruhigungsmittel, die nicht wirkten. Was würde passieren, wenn ihr Cousin nicht käme? Was sollte sie dann machen? Sie selbst war zu schwach dafür, den Körper zu entsorgen, sie konnte ihn ja noch nicht einmal ziehen. Wie lange es dauern würde, bis die Polizei hier wäre? Welche Strafe hatte sie zu erwarten?
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