Die Unterhaltung mit Alfons Wagner habe mal gut eine halbe Stunde gedauert. Und dann sei Jasper wieder über irgendwelche kleinen Straßen bis an die deutsche Grenze gelangt, wo er in einem Gasthaus zu Mittag gespeist hatte. Er versicherte den Anwesenden, die Quittung dieses Aufenthalts liege seiner Buchführung vor und werde beweisen, dass er sich um ein Uhr des frühen Nachmittags bereits wieder in Deutschland befunden hatte.
Trotzdem war das für Jasper keine Entlastung. Im Gegenteil, laut dem neuesten korrigierten Befund der luxemburgischen Gerichtsmedizin war Wagner zwischen 11.45 und 12.45 Uhr verstorben, also genau in dem Zeitraum, als Jasper mit ihm gesprochen haben wollte. Das trug Kommisar Frisch Jasper und seinem Anwalt nun auch zur Kenntnis, und was folgen würde, stand Spitz auf Knopf.
Eine telefonische Rückfrage bei Steiner belehrte Frisch, es sei überflüssig, Jasper in dieser Phase bereits vorsorglich einzulochen. Der Chef empfahl seinem Assistenten, Jasper noch ein wenig dem Kollegen Bose zu überlassen und ihn dann wieder vor die Tür zu setzen. Jasper war nach Haralds Ansicht nicht der Hasenfuß, der wegen ein paar vagen Indizien das Weite suchen würde.
Steiner und Mink trafen gegen 15.40 Uhr im luxemburgischen Polizeipräsidium ein und wurden sofort in Rollingers Büro geleitet, wo der Commissaire erst einmal für die Bewirtung der deutschen Kollegen mit Kaffee und Kuchen sorgen ließ. Vermutlich eine Geste der Sympathie. Doch dann sah sich André Rollinger gezwungen, sich für das bisher enttäuschende Ergebnis der Suche nach Manuela Kranz’ Unterschlupf zu rechtfertigen.
„Die Ecke, wo wir die Bleibe der Kranz vermuten, ist ein wenig spezial. Die Gebäude sind vor dreißig Jahren für Leute mit kleinem Geldbeutel als Mietwohnungen hochgezogen worden. Kaum zehn Jahre danach, gab es aber kaum noch Leute mit geringem Einkommen in unserem Land. Das ändert sich aber allmählich wieder.“
„Damals war wohl hier im Lande das von Nostradamus prophezeite goldene Zeitalter angebrochen“, merkte Steiner bissig an. „Ich dachte, der alte Hellseher hätte behauptet, das dauere tausend Jahre. Kleine Länder kurze tausend Jahre, wie?“
Spitzfindig versetzte Rollinger nicht minder sarkastisch: „Das mit den tausend Jahren, die etwas sehr kurz ausfallen, ist doch wohl eher eine deutsche Spezialität. Waren es nicht real nur zwölf Jahre?“ (gemeint war die Periode von 1933 bis 1945 - „das tausendjährige Reich“)
Zuerst war Monika über diesen verbalen Schlagabtausch erschrocken, aber schnell begriff sie den trockenen, fast schwarzen Humor und musste dann doch schmunzeln.
Rollinger kam wieder auf das Essenzielle zu sprechen. „Wir werden mit Sicherheit bald rausbekommen, was die Kranz in dem Stadtteil verloren hatte. Jedenfalls deutet alles darauf hin, dass sie in den letzten Jahren, wenn nicht hier in der Stadt wohnte, so doch sehr häufig hier gewesen sein muss. Übrigens steht noch immer nicht hundertprozentig fest, ob die verbrannte Leiche die der Frau Kranz ist. Hätten wir Vergleichs-DNA ließe sich jeder Zweifel ausräumen.“
Harald hielt ihm die Plastiktüte vors Gesicht, in dem sich der mutmaßliche Verstärker der Abhöranlage befand, den man im Hotel Schiltz entdeckt hatte.
„Vielleicht hilft uns das hier weiter.“ Und er erklärte, was es mit dem Zubehörteil auf sich hatte, um dann detailliert nachzuvollziehen, wie er sich den Verlauf von Manuela Kranz’ Verbleib in dem St. Vither Hotel vorstellte.
„Irgendwie muss die Kranz rausbekommen haben, dass sich die Leute vom Kartell in St. Vith treffen wollten. Es ist auch denkbar, dass sie bereits im Vorab über die Themen dieser Besprechungen Bescheid wusste, oder aber sie suchte jenen Haken, an dem sie diese Leute hochziehen konnte, um sie zu einem Aderlass zu zwingen. Wofür sonst dieses Ding?
Alles spricht für ihr Unterfangen, die Konferenz zu belauschen. Sie reist einen Tag vor diesen Burschen an und lässt sich vom Hotelier den Konferenzsaal zeigen, in dem die Brüder tags drauf ihre Besprechungen abhalten wollen. Sie vergewissert sich, freien Zugang zu diesem Raum zu haben, um ihre Wanzen zu installieren und später wieder zu demontieren. Während der Dauer der Zusammenkunft zieht sie sich unter dem Vorwand, eine Migräne zu haben, in ihr Zimmer zurück.
Am nächsten Morgen befindet sie sich vor allen anderen Gästen im Frühstücksraum, erkennt an den aneinander geschobenen Tischen, wo die Kartellfritzen gemeinsam ihr Morgenmahl einnehmen werden, und setzt sich an einen Nachbartisch mit ihrem Rücken zu den Tischen der Kartellheinis gewandt, wodurch sie die besten Chancen hat, einiges von deren Gesprächen aufzufangen, gleichzeitig aber nicht von ihnen erkannt werden kann. Sie verlässt den Raum aus dem gleichen Grund nach den Kartellmitgliedern. Am Abend dann kommt Alfons Wagner ins Hotel, und beide besprechen beim Dinner, was die Kranz rausgefunden hat.
Nun wäre es natürlich sehr interessant, einiges mehr darüber zu wissen. Woher wusste Frau Kranz von diesem Treffen? Was war der Anlass für das Treffen? Wieso mied Frau Kranz den Augenkontakt zu den Mitgliedern dieser Zusammenkunft, die sie doch eigentlich nicht kennen dürften? Warum ließ sie Wagner ins Hotel kommen und ist nicht von dort aus direkt zu Wagners Ferienwohnung gefahren?“
„Höchst bemerkenswert“, äußerte sich Rollinger. „Das Duo Wagner-Kranz scheint sich also tatsächlich auf dünnes Eis begeben zu haben und dem Kartell zu nahe getreten zu sein.“
„Man könnte es fast glauben“, meinte auch Steiner.
„Mir will dabei nur nicht in den Kopf, wie dann beide mit einer Waffe, die auf Alfons Wagner registriert ist, umgebracht werden konnten“, gab Monika zu bedenken. „Allem Anschein nach können Wagner und Kranz doch frühestens erst nach jenem Donnerstag an das Kartell herangetreten sein. Am späten Samstagnachmittag oder -abend wurde aber bereits Manuela Kranz ermordet. Wie soll das Kartell so schnell Informationen über Kranz und Wagner gesammelt haben, über die Waffe Wagners Bescheid wissen und sich diese dann auch noch besorgen können?“
Die Kommissare sahen sie verblüfft an, und Steiner brachte auf den Punkt, was ihnen daran besonders erstaunlich vorkam.
„Manchmal scheine ich Sie ja wirklich unterschätzt zu haben, Mink. Irgendwie gibt alles keinen Sinn, wenn man die Tatwaffe als Komponente in diesem Spiel mit einbezieht.“ Er wandte sich an den Commissaire. „Was halten Sie davon?“
„Frau Mink hat Recht. Da ist einiges nicht kompatibel. Da hätte ja dieser Jasper schon eher Zugriff auf die Waffe haben können.“
„Sogar das halte ich mit Verlaub für Blödsinn“, stellte Harald dieses in Frage. „Einerseits beschafft sich Jasper sehr raffiniert überlegend ein Mordinstrument aus den Beständen eines seiner Opfer. Andererseits hinterlässt er seine Fingerabdrücke als Visitenkarte am Tatort und besorgt sich nicht einmal für die Tatzeit ein wasserdichtes Alibi. Wo genau hat man denn eigentlich Jaspers Fingerabdrücke in Wagners Hütte festgestellt?“
„Einige fand man am Rahmen und am Blatt der Eingangstür, einige an den Möbeln der Wohnecke.“
„Wohnecke?“ wiederholte die Mink. „Deutet das nicht darauf hin, dass Wagner und Jasper tatsächlich miteinander gesprochen haben, wie es Jasper aussagte?“
„Vielleicht“, erwiderte ihr Chef. „Vielleicht hat er dort auch nur etwas gesucht, nachdem er Wagner getötet hatte. Eventuell hatte er gar nicht vorgehabt, Wagner umzupusten, aber es war dann irgendwie bei ihrem Treffen eskaliert, und dabei ist Jasper an die Waffe geraten. Dann hatte er in seiner Panik nicht mehr gewusst, was er alles angefasst hatte. Daher auch die Fingerabdrücke.“
„Das, Herr Kollege, würde implizieren, dass Wagner der Mörder von Frau Kranz ist“, leitete der Luxemburger daraus ab. „Denn dann hätte sich die Waffe ja am Montag noch in Wagners Besitz befunden.“ Er seufzte. „Als sei die Story nicht schon konfus genug.“
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