Vor allem war sie ausgesprochen intelligent und empathisch. Sie wusste schon immer was los war, bevor irgendjemand merkte, dass überhaupt irgendetwas los war. Sie spürte natürlich auch, dass mit mir etwas nicht stimmte. Dass es mir nicht gut ging, so sehr ich mich auch bemühte, das zu verstecken. Ich wollte nicht, dass sie sich sorgte. Und ich wollte mich nicht sorgen. Ich hatte immer schon Angst vor meinen Sorgen. Und dank meiner Verdrängungskünste hatte ich ein perfektes Leben. Bis jetzt.
*
Wir saßen irgendwann – es muss so Mitte September gewesen sein - im Garten unseres alten Hauses, das wir vor fünfzehn Jahren gekauft und – wie ich fand - liebevoll selbst saniert und renoviert hatten. Es war ein uriges Fachwerkhaus aus dem 19. Jahrhundert mit einem wunderschönen alten Obstgarten. Wir saßen in unserer Lieblingsecke unter einem alten Apfelbaum und tranken Kaffee. Wir saßen oft da, im Sommer meist bis spät in die Nacht, allein, mit Freunden, erzählten, tranken Wein und genossen unser Leben. Und nun saßen wir wieder da. Aber diesmal genossen wir es nicht.
Sarah nahm meine Hände in ihre und sah mir in die Augen. Lange. Länger, als ich es aushalten konnte. Ich wusste, dass es ein ernstes Gespräch werden würde. Immer wenn sie meine Hände hielt, wurde es ernst. „Was ist los mit dir, Schatz?“ Sie fragte das ganz ruhig und schaute mich dabei mit festem Blick an. Ich hielt diesem Blick nicht stand und verdrehte die Augen. Das machte ich immer, wenn ich über etwas nicht sprechen wollte. Und über mich sprach ich schon gar nicht gern. Lieber über andere. „Nichts.“, sagte ich. „Was soll sein? Alles gut.“, versuchte ich das drohende Gespräch im Keim zu ersticken. Natürlich wusste ich, dass ich damit nicht durchkommen würde. Wenn Sarah einmal angefangen hatte, ließ sie so schnell nicht locker. Ich wollte aufstehen, sagte, ich wolle mir einen Kaffee holen und ob sie auch etwas brauchte. Aber sie hielt meine Hände einfach fest und setzte nach. Ihre Stimme klang jetzt auf einmal nicht mehr so ruhig. Sie wurde bestimmter, nein, gereizter. „Nichts ist gut. Ich merke doch, wie schlecht es dir in letzter Zeit geht. Jede Nacht hustest du, ich merke, dass du Schmerzen hast und ich sehe auch, wie du aussiehst. Ich bin doch nicht blöd. Und es ärgert mich, wenn du mich für blöd verkaufen willst.“ Sarah kam in Fahrt. „Du kannst das nicht ignorieren. Ich mache mir Sorgen.“ Ich versuchte einfach, wegzuschauen und versuchte, meine Hände aus ihrem Griff zu befreien. Aber Sarah ließ nicht locker. „Wenn es etwas Schlimmes ist, dann ist es vielleicht noch nicht so schlimm und wir können etwas tun. Irgendwas. Dann wissen wir wenigstens, was los ist und wogegen wir kämpfen können. Und wenn es nichts Schlimmes ist, dann wissen wir auch Bescheid und müssen uns nicht mehr sorgen. Bitte.“ Ich versuchte immer noch verzweifelt, ihrem Blick auszuweichen. Versuchte, mich herauszuwinden, aber Sarah hielt meine Hände einfach fest und fixierte mich. „Mark, bitte! So geht das nicht. Das ist wichtig.“ Das sagte sie fast flehend. Ich wusste, ich fürchtete, dass ich mich ihr nicht entziehen konnte. Das konnte ich noch nie. Wenn Sarah sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann setzte sie das auch durch. Jetzt hatte sie sich vorgenommen, mich zu knacken, mich aufzubrechen, damit ich sie endlich an mich heranließe. Sich und die Wahrheit. Und wenn ich ehrlich bin, dann liebte ich sie genau dafür ganz besonders. Dafür, dass sie mich einfach nie entkommen ließ. Ohne sie hätte ich mich wahrscheinlich in mich selbst vergraben. Wenn das irgendwie gegangen wäre. Ich gab an diesem Abend im Garten meinen Widerstand auf. Aber ich traute mich nicht, sie anzuschauen. Ich hatte Angst. Aber ich wusste auch, dass ich diesmal nicht umhinkäme. Ich sah ihr in die Augen. „Okay. Ich lass das untersuchen.“ Wahrscheinlich klang meine Stimme nicht sonderlich stark oder überzeugend. Tief drinnen ahnte ich schon, dass es diesmal nichts war, was ich einfach wegreden oder selbst behandeln konnte. Kügelchen reichten diesmal nicht. „Ich rufe gleich morgen früh Dr. Matthiesen an.“ Sarah sah mich an. „Wirklich?“ Ich hielt ihrem Blick stand. „Versprochen!“ Sarah nahm mich in den Arm. Sie war froh, dass ich endlich eingewilligt hatte, Klarheit zu bekommen. Mich der Wahrheit zu stellen. Sie war froh, dass ich endlich aufhören wollte, mich selbst zu belügen. Und sie. Sie merkte auch, welche Angst ich in diesem Moment hatte. Ich hatte tatsächlich furchtbare Angst. Und sie auch. Wir hielten uns noch lange fest. Als es allmählich unangenehm kühl wurde, gingen wir ins Haus. Wir tranken in der Küche noch ein Glas Chardonnay und gingen dann auch bald ins Bett. Ich wusste nicht, wie ich mich fühlte. Sollte ich froh darüber sein, dass ich mich jetzt endlich untersuchen lassen würde, oder sollte ich mich fürchten, weil ich mich jetzt endlich untersuchen lassen würde.
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Am nächsten Morgen rief ich im Büro an, nahm mir wegen kurzfristiger familiärer Angelegenheiten, die keinen Aufschub erlaubten, frei – niemals hätte ich mich krank gemeldet - und machte einen Termin bei meinem Hausarzt. Ich sollte gleich kommen. Er würde mich schon irgendwie zwischen zwei andere Patienten schieben. Dr. Matthiesen kannte uns schon lange. Und er wusste, dass es etwas Ernstes sein musste, wenn ich für mich selbst um einen Termin bei ihm nachsuchte. Ich sollte nüchtern kommen, was mir nicht wirklich schwerfiel, weil ich in letzter Zeit ohnehin keinen rechten Appetit hatte, trank daher nur einen schwarzen Kaffee und verabschiedete mich von Sarah. Eigentlich wollte sie mich begleiten. Aber ich wiegelte ab. Sie hätte sicherlich selbst genug zu tun und es wäre ja nur eine Untersuchung. Sarah war nicht wohl dabei. Aber sie war auch froh, dass ich nun überhaupt bereit war, zum Arzt zu gehen. Sie wollte mich wohl nicht noch weiter drängen. Ich stieg ins Auto und fuhr los. Sie sah mir noch einen Moment aus dem Küchenfenster nach. Sie war unruhig. Hatte Angst. Um mich.
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Ich musste nicht lange warten. Offensichtlich erwartete Dr. Matthiesen mich schon. Nach einem kurzen, aber intensiven Gespräch über mich und meine Beschwerden, ließ ich mich gründlich untersuchen. Großes Blutbild, Röntgen, EKG. Das volle Programm. So eingehend hatte ich mich noch nie durchchecken lassen. „Und?“, fragte ich meinen Arzt möglichst beiläufig. Ich hatte natürlich erwartet, nein, ich hatte inständig gehofft, dass er sagen würde, es sei soweit alles in Ordnung, ich solle aber dringend weniger rauchen oder am besten ganz aufhören, ich solle mich weniger Stress aussetzen, mal wieder richtig Urlaub machen und sowas. Was Ärzte so sagen. Aber das sagte er nicht. Er sagte stattdessen, dass er heute gar nichts sagen könne und sich das alles erst in Ruhe anschauen müsse und sich dann bei mir melden würde. Damit entließ er mich.
Ich war etwas verwirrt. Ich hasste es, warten zu müssen. Ich fühlte sich immer so klein, so ausgeliefert und abhängig, wenn ich auf etwas warten musste. Aber es blieb mir nun nichts anderes übrig. Also atmete ich tief durch, setzte mich in mein Auto. Eigentlich wollte ich nach Hause fahren. Aber irgendwie wollte ich auch nicht und hatte auf einmal mehr Lust, Sarah anzurufen und sie zu fragen, ob sie sich nicht ins Auto setzten wollte, sich mit mir in der Stadt treffen, bummeln und vielleicht irgendwo Sushi essen wollte. Ich war zwar kein ausgesprochener Sushi-Fan, aber ich wusste, wie sehr sie es liebte. Und was konnte ich mit diesem angefangenen Tag besseres tun, als ihn mit Sarah zu verbringen? Ich rief sie an und Sarah freute sich sehr über meinen überraschenden Vorschlag. In letzter Zeit kam das viel zu selten vor. Irgendwie hatte ich alle Spontaneität, die sie, so glaubte ich zumindest, so an mir liebte, in den vergangenen Wochen und Monaten verloren. Umso glücklicher war sie jetzt.
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