Ich fuhr einfach durch die Stadt. Am Aegi vorbei, am Neuen Rathaus und am Maschsee entlang. Der Maschsee war für mich der schönste Ort in Hannover. Der Weg um den See war Sarahs und meine Joggingstrecke. Mindestens zweimal in der Woche waren wir noch bis vor Kurzem um den See gerannt. Bis ich das vor ein paar Wochen nicht mehr konnte, weil mir einfach die Luft wegblieb. Sarah hatte ich erzählt, ich hätte Probleme mit dem linken Knie. Ich wusste nicht, ob sie mir das glaubte. Sie nahm es scheinbar so hin. Dabei wusste ich eigentlich ganz genau, dass sie nie irgendetwas einfach so hinnahm. Manchmal gingen wir da aber auch nur spazieren oder tranken im Pier51 einen Kaffee oder einen Aperol Spritz. Wir liebten unser zweisames Beisammensein an unserem See. Heute interessierte er mich nicht und ich ließ ihn einfach links liegen und fuhr weiter stadtauswärts.
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Diesen Schmerz in der Lunge hatte ich nun schon lange. Bestimmt schon ein halbes Jahr. Anfangs war er nur sporadisch da, in der letzten Zeit aber war er mein ständiger Begleiter. Deshalb war ich ja nur zum Arzt gegangen. Meine Frau Sarah hatte mich dazu gedrängt. Ich selbst wäre wahrscheinlich gar nicht auf die Idee gekommen, einen Arzt aufzusuchen. Ich hasste Ärzte. Immer schon. Ärzte machten mir Angst. Angst vor schlimmen Diagnosen, Angst vor Schmerzen und vor schlimmen Aussichten, Angst vor der Wahrheit. Vor allem vor der Wahrheit. Die Wahrheit hat mir schon immer Angst gemacht. Das war mir im Laufe der Zeit zur zweiten Haut geworden. Wahrheit ist doof. Zumindest, wenn es um mich ging. Eigentlich habe ich auch immer ganz gut gespürt, was mit mir los war, wusste, was zu tun war, wenn mir irgendetwas fehlte. Dann behandelte ich mich immer selbst mit meinen homöopathischen Kügelchen und kriegte das alles auch immer ganz gut in den Griff. Keinen Alkohol, wenn es im Oberbauch zwickte, weniger Rauchen, wenn die Lunge rasselte, kein Schweinefleisch, wenn ich fürchtete, dass meine Cholesterinwerte nicht in Ordnung waren, viel Sex, wenn ich Angst vor einem Herzinfarkt hatte. Ich hatte irgendwo mal gelesen, dass Sex prophylaktisch gegen Herzkrankheiten wirke. Und seitdem hatte ich zur großen Freude von Sarah oft Angst vor einem Herzinfarkt.
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Aber diesmal war das anders. Ganz anders. Ich hatte Schmerzen, chronische Schmerzen. Immer. Wenn ich tief Luft holte, wenn ich mich anstrengte, husten musste oder wenn ich im Bett auf der linken Seite lag. Dann war dieser Schmerz da. Außerdem hatte ich in letzter Zeit ständig Rückenschmerzen. Obwohl ich regelmäßig Sport trieb. Aber der Sport half überhaupt nicht. Im Gegenteil. Danach wurde es eigentlich immer schlimmer. Offenbar kein muskuläres Problem. Sarah hatte ich – mal wieder - nichts davon gesagt. Aber sie hörte es ja, wenn ich nachts hustete, oder stöhnte. Ich bin ja selbst davon wachgeworden. Sie merkte auch, dass ich seit einiger Zeit im Schlaf schwitzte. Jede Nacht. Irgendwann sagte sie mir, dass sie sich Sorgen machen würde. Ich habe das dann runtergespielt. Wie immer. Ich wollte nicht, dass sie sich sorgte. Ich hatte Angst vor ihren Sorgen. Und vor meinen eigenen natürlich. Vor allem vor meinen eigenen. Heute würde ich sagen, ich war ein echter Verdrängungskünstler. Das hatte ich drauf. Verdrängen. Runterspielen. Ignorieren. Das lief ja auch bisher ganz gut.
Aber diesmal war das eben anders. Diesmal ging es mir unübersehbar schlecht. Das konnte nicht mal ich selbst ignorieren. Ich hatte ziemlich viel abgenommen. Aber nicht freiwillig. Ich musste mit zunehmendem Alter immer sehr auf mein Gewicht achten. Ich neigte dazu, nein, meine Hüften neigten dazu, sich jede Mahlzeit zu merken. Jede. Und meine Hüften hatten offensichtlich ein sehr gutes Gedächtnis. Ein Langzeitgedächtnis offenbar. Wahrscheinlich waren meine Hüften das intelligenteste Organ an mir. Also musste ich in den letzten Jahren immer gegen dieses Gedächtnis ankämpfen. Machte ich auch. Da war ich erstaunlich diszipliniert. Für meine Verhältnisse. FdH und Sport hielten mein Gewicht einigermaßen im Gleichgewicht. Mal drei Kilo rauf, mal drei Kilo runter. Im Sommer ein bisschen weniger, im Winter ein wenig mehr. Alles gut. Aber in der letzten Zeit verlor ich erstaunlich viel Gewicht. Ohne, dass ich irgendetwas dafür tat. Einfach so. Und obwohl ich in meiner Mucki-Bude regelmäßig trainierte, machte ich ehrlicherweise mehr Rück- als Fortschritte. Ich fühlte mich einfach unglaublich schlapp. Und mit der Zeit immer schlapper. Das machte mir schon zu schaffen. Ja, diesmal war ich wirklich selbst beunruhigt und ich ahnte, dass es diesmal nicht mit meinen Selbstheilungsversuchen getan wäre.
Ich sah auch im Gesicht nicht gut aus, wie ich in letzter Zeit immer häufiger feststellte. Ich war oft so aschfahl im Gesicht. Obwohl ich für mein Alter, ich war jetzt zweiundfünfzig, doch eigentlich ganz gut beieinander war. Ich fand, dass ich gut aussah. Eigentlich. Kurz geschnittene, leicht verwuselte, grau melierte Haare, scharf konturierte Koteletten, Dreitagebart, graublaue Augen, markantes Kinn. Und meistens leicht gebräunt. Ich war gut gekleidet, trug gern dunkle Rollkragenpullover, mal zur Jeans, mal zu eleganten Anzughosen. Teure Schuhe. Ich legte immer großen Wert auf mein Äußeres und dass ich Sport machte, konnte man auch sehen. Selbst in meinem schlabbrigen Jogginganzug machte ich immer eine gute Figur. Fand ich.
Auch sonst ging es mir bisher ausgesprochen gut. Ich war seit vierundzwanzig Jahren verheiratet. Ich hatte Sarah ganz zufällig auf einer WM-Party in Lorettas Biergarten kennengelernt. 1990, als Deutschland in Italien zum dritten Mal Fußball-Weltmeister wurde. Wir feierten miteinander, wir lachten miteinander, wir tranken miteinander und dann schliefen wir miteinander. Acht Wochen später haben wir geheiratet. Unsere Familien und Freunde hielten uns damals für völlig bekloppt. Waren wir auch. Völlig verrückt. Aufeinander. Wie führten eine wirklich schöne Ehe. Ohne große Eskapaden oder Zwischenfälle. Ungewöhnlich, aber wahr. Sarah und ich waren glücklich, richtig glücklich. Wir hatten zwei wunderbare Kinder, Paula und Ben, die mittlerweile erwachsen waren und weitgehend ihr eigenes Leben führten. Paula arbeitete als Volontärin in der Sportredaktion einer großen Tageszeitung in Hamburg und war gerade mit ihrem Freund Thore zusammengezogen, einem Eventmanager, den Sie auf irgendeiner Vernissage kennen lernte. Thore war ein netter Kerl. Sarah und ich mochten ihn. Echt. Er passte zu ihr und irgendwie auch zu uns. Ben studierte in Prag Literaturwissenschaften im dritten Semester. Er hatte sein Studium zunächst in München begonnen, aber zu Beginn des zweiten Semesters hatte er die Möglichkeit, an die Karls-Universität zu wechseln. Wir hatten erst Bedenken, ob Ben dort zurechtkommen würde, stimmten letztlich aber zu und unterstützten ihn, so gut wir konnten. Es war eine gute Entscheidung.
Wir hatten allen Grund, stolz auf unsere Kinder zu sein. Und wir waren es auch. Es gab nur selten Probleme, wenn man mal vom allgemeinen pubertierenden Gezicke absah. Aber das war ja schon lange her. Und seit Paula und Ben nur noch ab und zu am Wochenende oder in den Semesterferien nach Hause kamen, hatten wir permanent sturmfrei und wir nutzten das reichlich. Besser konnte es eigentlich nicht sein. Ein Leben wie aus dem Bilderbuch.
Auch beruflich lief alles bestens. Ich hatte einen Job als Projektmanager in einer großen Firma, die weltweit Labortechnik vertrieb. Gutes Gehalt, privateigener Firmenwagen, Provision, viele Auslandsreisen, auf denen Sarah mich so oft wie möglich begleitete. Die Wirtschaftskrise war weitgehend spurlos an dem Unternehmen vorbeigegangen. Sarah hatte einen gutbezahlten Job in der Kreativabteilung einer Werbeagentur als Texterin. Sie war sehr erfolgreich, konnte viel von zuhause aus arbeiten und fand absolute Erfüllung darin. Sie war für ihre achtundvierzig Jahre auffallend attraktiv. Sportlich, schlank, groß, lange blonde Haare, grüne Augen, die wie Smaragde strahlten konnten. Sie hatte eine ganz besondere Wirkung auf ihre Mitmenschen. Besonders Männer konnte sie spielend um den Finger wickeln. Sie wusste durchaus, wie sie ihre Reize einsetzen musste, um das zu erreichen, was sie wollte. Sei es im Privaten, sei es im Beruflichen. Wobei sie immer ganz klar darin war, wer an ihre Seite gehörte und wer nicht, und jedem ungefragt signalisierte, dass sie keinesfalls auf irgendwelche Abenteuer aus war.
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