Noch am Abend rief er seine engsten Vertrauten zusammen. Nathan, seinen Großvater Thorald, Sinan und die alten Kameraden seines Vaters. Und den Heerführer, natürlich. Nicht Iovan, Amaya und ihre neuen Familien. Keine eigenen Freunde. Er hatte keine, denen er genug vertraute. Das war ihm noch nie so bewusst wie jetzt.
»Nat, sei so gut und schicke die Wachen vor der Tür fort. Lass sie alle Zugänge zu diesem Trakt bewachen und niemanden sich uns nähern.« Ernst sah er in die Runde und begann schließlich zu berichten.
Sinan seufzte nur, als er von Farlans Erkenntnissen hörte. »Ich habe so etwas befürchtet. Vor allem merke ich es daran, was die Leute mir nicht erzählen. Was hast du jetzt vor?«
Farlan schaute in die Runde dieser müden Gesichter. Das waren sie alle, alt und müde. Zeit, dass sich die Dinge gründlich änderten, dachte er grimmig. Er selbst fühlte eine Kraft wie noch nie, den Drang, vorwärts zu gehen. »Ich berufe den vollständigen Rat ein. Morgen. Und dort verkünde ich Vaters... Abdankung. Und meine Übernahme der Herrschaft. Wir haben keine Wahl.«
Die Verkündigung des folgenden Tages erschütterte das gildaische Reich bis in seine Grundfesten. Nicht so sehr die Fürsten, denn die ahnten schon, dass etwas Derartiges folgen würde, als sie und nicht ihre Vertreter vollzählig vor den Rat gerufen wurden, sondern das Heer und das Volk. Die Würdenträger der Stadt, die Schwestern, die Mönche, die Händler, Handwerker und Hirten, die Soldaten, eben alle, die eine feste Aufgabe in diesem lebendigen und so schaffenskräftigen Volk hatten.
Er stellte den Rat vor vollendete Tatsachen und übernahm im Handstreich die Macht. Nur ein paar Wochen später, als er alle noch fehlenden Fürsten zusammengerufen hatte, ließ er sich an einem sonnigen, aber sehr windigen und kalten Tag zum König krönen und heiratete auch gleich Shoona in derselben Zeremonie.
Nach dem anfänglichen Schock zeigten sich alle erleichtert, dass die Zeit der Unsicherheit und des Wartens vorbei war und sie endlich wieder wussten, woran sie waren. Mit dieser Tat stieg der junge Thronfolger erheblich in der Achtung der Fürsten und gab ihnen gehörig zu denken, vor allem, als sie beim anschließenden Empfang eine Vorladung für den nächsten Tag erhielten und ihren Eid persönlich und nicht in der großen Versammlung wie sonst üblich ablegen mussten.
Farlan fühlte eine Mischung aus wildem Triumph und tiefer Trauer, als dieser lange Tag zu Ende ging und es nur noch eine Pflicht zu erfüllen galt. Eben hatten die Frauen Shoona fort geführt, jetzt erhob er sich unter den verhaltenen Scherzen seiner Brüder und Kameraden. Feiern taten sie nicht, es hatte nur einen kleinen Empfang, der immer noch die halbe Halle füllte, gegeben. Shaun postete ihm zu, die dunklen schmalen Augen blitzend vor... ja, was? War es Freude? Triumph? Auf einmal beschlich Farlan wieder das Gefühl, dass er in eine Falle lief. Die Anwesenden hoben ihre Becher und tranken auf sein Wohl, während er seinen Krönungsumhang umlegte und von einer Ehrengarde aus dem Raum eskortiert wurde.
Das war der Moment, vor dem er sich insgeheim gefürchtet hatte. Dies gestand er sich aber erst ein, als er vor dem Tor zu ihren neuen Gemächern stand und die Frauen mit einem unterdrückten Kichern vor ihm knicksten und an ihm vorbei schlüpften. Keine Trauer um keine Königin der Welt konnte das Vergnügen schmälern, eine Braut zu Bett zu bringen, das wusste er wohl. Zum Glück, dachte er, hatten sie nicht solche Bräuche wie die Shouh. Er wüsste dann nicht, was er jetzt getan hätte.
Im Hauptraum ihrer Gemächer lag ihr Hochzeitsgewand ausgebreitet, ein Symbol, dass sie nun bar aller Kleidung sein war. An dem Kleid musste sie schon Monate vorher gearbeitet haben, denn diesen Aufwand, die vielen kleinen aufgestickten Perlen und Ziermuster hätte sie niemals in diesen wenigen Tagen bewerkstelligen können. Keine Frage, sie hatte darin wunderschön ausgesehen, wie eine wahre Prinzessin und künftige Königin. Doch nun zählte nicht mehr die Pracht, sondern nur noch sie selbst. Sie beide.
Mit einem Mal war Farlan nervös. Dem Brauch der Offiziersanwärter, bei jeder sich bietenden Gelegenheit durch die Hurenhäuser der Wirtsgasse zu ziehen, war er nie gefolgt, weshalb er sich nicht unbedingt Freunde unter ihnen gemacht hatte. Seine Erfahrungen mit Frauen beschränkten sich auf das allererste Mal in der Wirtsgasse, danach war er nie wieder dorthin gegangen. Nun wusste er nicht, wie er sich verhalten sollte und was sie von ihm erwartete. Schön, wie sie war, sollte man meinen, sie ziehe ihn an, aber das war nicht der Fall.
Farlan holte tief Luft, bevor er ihr künftiges gemeinsames Schlafzimmer betrat. Es war nur eine weitere Pflicht in einer ganzen Reihe. Das zumindest redete er sich ein. Doch kaum schaute er durch die Tür, wurde er vollkommen überrascht. Er hörte sie hastig Luft holen, und dann sah er sie in ihrem künftigen Ehebett, klein und schmal und leichenblass. Ihre Augen erschienen ihm riesig in dem von der schwarzen Haarflut umrahmten Gesicht, die Kieferknochen traten deutlich hervor, so sehr biss sie die Zähne zusammen. Das war nicht nur Unsicherheit, erkannte er. Sie hatte Angst. Nur warum? Langsam ließ er seinen schweren Umhang zu Boden gleiten und ging auf sie zu.
»Was ist mit dir?«
Sie schluckte. »Ich... ich...« Ihre Worte klangen erstickt. Sie zog die Decke noch ein Stückchen höher.
Dieses Bild passte so wenig zu der ruhigen, würdevollen Prinzessin, die er kannte, dass er sich fragte, ob er überhaupt dieselbe Person vor sich hatte. Oder bekam die Maske endlich Risse? Jetzt, da sie ihr Ziel erreicht hatte? Dieser Verdacht drängte mit Macht in ihm hoch. Er setzte sich auf die Brettkante. »Spuck’s aus, Shoona. Wir sind jetzt Mann und Frau. Was kann dir noch geschehen?«
»Eine Menge«, flüsterte sie, und eine einzelne Träne rann ihr die Wange herab. Sie holte tief Luft. Ihr Blick irrte zur Seite.
Das kannte Farlan nur allzu gut. Er beugte sich vor. »Shoona! Sieh mich an! Hast du mir etwas zu sagen?« Sie schloss die Augen und barg das Gesicht in den Händen.
Da wurde Farlan wütend. Er packte ihre Hände und riss sie herunter, so brutal, dass sie erschrocken die Augen aufriss. »Haben die Cerinn... haben sie dich bekommen? Antworte mir!«
Sie starrte ihn furchtsam an. Er packte sie am Kragen ihres Nachtgewandes. »Ant-wor-te mir!« Jede Silbe unterstrich er mit einem Ruck, dass die Nähte knackten. Ihr Blick flackerte, doch dann, ganz unmerklich, nickte sie. Farlan sah rot. ›Hereingelegt!‹, schoss es durch ihn. Angewidert stieß er sie von sich. Er wusste genauso wie sie, dass ihre Ehe nicht mehr aufgelöst werden konnte, es sei denn, durch den Tod.
In der kleinen Höhle lag Lara auf der Schlafstätte und starrte mit vor Müdigkeit brennenden Augen in die Dunkelheit. Tränen hatte sie schon lange keine mehr, seit der Nacht, da sie Farlan klar gemacht hatte, was er zu tun hatte. Bei den heutigen Zeremonien mussten alle Schwestern anwesend sein, und sie hatte mit ansehen müssen, wie er für immer an die Seite einer anderen gebunden wurde. Das war ein Anblick, kaum für sie zu ertragen. Farlan war ihr wie von einem Feuer ergriffen erschienen, einem zornigen Feuer. Nicht, dass ein Außenstehender darauf gekommen wäre, aber sie hatte es deutlich gesehen.
Lara schloss die müden Augen. Vielleicht konnte sie ja jetzt endlich... da hörte sie ein Geräusch. Sie war mit einem Satz von der Schlafstatt herunter und duckte sich in eine Nische neben dem Durchgang. Farlan konnte das nicht sein. Hoffentlich kamen Nathan oder Iovan und sein Freund Cem – über die beiden wäre sie nicht nur in einer Nacht beinahe gestolpert – nicht auf den Einfall, die kleine Höhle aufzusuchen.
Es waren schwere, hastige Schritte, beinahe stolpernd. Lara hielt die Luft an, als eine große Gestalt an ihr vorbei fegte und keuchend an der Außenöffnung stehen blieb. Sie richtete sich langsam auf und schluckte. »Fal?«
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