Bremminger nahm Börners Bemerkung gar nicht zur Notiz. "Und die ungeheuerliche Behauptung, die du gerade über Milewski vom Stapel gelassen hast, bezieht sich dann wohl auch auf diesen Fall?"
Börner nickte nur.
"Aber das kannst du doch nicht behaupten!", platzte Bremminger los. "Das ist doch unglaublich, Milewski einen Mord zu unterstellen."
"Ich unterstelle Milewski gar nichts", sagte Börner ruhig. "Ich weiß, dass Milewski einen Menschen umgebracht hat. Vorsätzlich umgebracht."
"Und woher willst du das denn wissen?"
"Ich selber habe ihm gesagt, er soll es tun."
Nach dieser Auskunft verstand Bremminger gar nichts mehr und bestand darauf, den ganzen Fall von Beginn an zu rekapitulieren.
Es war eine üble Sache gewesen, bei der die Polizei damals eine mehr als blamable Figur gemacht hatte. Selbst für die überregionalen Blätter war der Fall Anlass zu hämischer Kritik gewesen, und obwohl alles schon fast fünf Jahre zurücklag, konnten Bremminger und Börner sich noch an jedes Detail erinnern.
Es hatte alles bereits mehr als ungewöhnlich begonnen. Auf der A 42, dem sogenannten Emscherschnellweg, war in der Nacht vom 22. auf den 23. August 1984 ein Mann tödlich verunglückt. Niemand hatte über die Ursachen des Unfalls gegen kurz nach eins konkrete Angaben machen können. Es hatte halt alles nach einem zwar fürchterlichen, letztlich aber ganz normalen Unfall ausgesehen. Dem Bericht der Autobahnpolizei war zu entnehmen gewesen, dass der schwere Mercedes des Toten mit sehr hoher Geschwindigkeit gegen die Leitplanken des Mittelstreifens gerast, in hohem Bogen auf die Gegenfahrbahn geflogen und nach mehrfachem Überschlagen an einem Brückenpfeiler zerborsten war. Der Kopf des Fahrers war wohl zunächst zwischen linker Tür und Lenkrad eingeklemmt und dann durch die ungeheure Wucht des Aufpralls auf den Pfeiler abgerissen worden.
Wieder sah Börner nun die zerstückelte Leiche vor sich, die er am frühen Morgen des folgenden Tages mit Bremminger im Gerichtsmedizinischen Institut in Essen gesehen hatte. Er hatte jedes schauderhafte Detail genau registriert: die noch halb geöffneten Augen des Toten, der wie in maßlosem Erstaunen verzerrte Mund und immer wieder die groteske Position des Kopfes zum Rumpf, die sich bei der kleinsten Bewegung des metallenen Sarges ergab. Angeblich hatte einer der Beamten der Autobahnpolizei am Unfallort gekotzt. Bremminger hatte es wenig später auch getan.
Gegen Mittag hatten sie dann bereits erfahren, dass dieser Unfall eben kein normaler Unfall gewesen war. Der Tote war mit einem Diabetesmittel vergiftet worden, so dass er schließlich im Schockzustand die Kontrolle über den Wagen verloren hatte. Dass sie es letztlich also mit einem Mord zu tun hatten, war eigentlich fast zufällig festgestellt worden; ein Mord mit Hilfe von Insulin oder anderen Diabetesmitteln war ein ganz besonders perfider Akt, weil sich diese Substanzen im Nachhinein nur schwer nachweisen ließen und es immer irgendwelcher Bedenken und Ungereimtheiten bedurfte, um überhaupt eine gerichtsmedizinische Untersuchung einzuleiten. Dem Notarzt, der sich angesichts der Leiche des Verunglückten wohl einigermaßen überflüssig am Unfallort vorgekommen sein musste, waren plötzlich aber tatsächlich irgendwelche Bedenken gekommen, an die sich aber auch Bremminger nicht mehr genau erinnern konnte. Aufgrund der Vermutungen dieses Arztes war die Leiche dann schließlich von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt und zur sofortigen Obduktion freigegeben worden.
Der Fahrer des verunglückten Wagens war der Juniorchef einer Speditionsfirma aus Gelsenkirchen gewesen. Man hatte die Identität nur anhand des Kfz-Kennzeichens ermitteln können, da der Tote keine Papiere bei sich gehabt hatte. Noch in der Nacht war die Mutter des Toten benachrichtigt worden und hatte die Identität bestätigt: Es handelte sich um den 31jährigen Carl Brenner aus Gelsenkirchen.
Den Mörder hatten sie bereits am folgenden Tag festnehmen können, das heißt, der hatte sich auf ebenfalls sehr seltsame Art gestellt und wenig später in der U-Haft Selbstmord begangen. Es war der Freund des Ermordeten gewesen, ein gewisser Raimund Wels aus Dortmund. Als Tatmotiv hatte Wels Eifersucht angegeben, und da Carl Brenner auch nach Aussage seiner Mutter anscheinend alles andere als monogam gewesen war, hatte es nicht den geringsten Anlass gegeben, dieses Motiv zu bezweifeln.
Für Bremminger jedenfalls nicht.
Der Fall Brenner wäre also eigentlich nach ein paar Tagen bereits abgeschlossen gewesen, wenn ihnen nicht die Kollegen vom 3.K. - zuständig für Rauschgiftdelikte - noch in die Parade gefahren wären. Die hatten die Firma Brenner nämlich schon seit fast drei Monaten observiert und wussten, dass diese Spedition in den größten Fall von Rauschgiftschmuggel verwickelt war, den es im Ruhrgebiet je gegeben hatte. Als die Ausmaße dieses Schmugglerrings deutlich geworden waren, hatte sogar das 7.K. - zuständig für die Bekämpfung von organisiertem Verbrechen - die Leitung des Falles übernommen.
Aus Algeciras in Südspanien mussten in geschickt präparierten Wagen schon mehrere Transporte mit marokkanischem Haschisch quer durch Spanien und Frankreich in die Bundesrepublik gekommen sein. Aber erst durch einen Zufall war das 3.K. im Frühjahr 1984 auf die Firma Brenner aufmerksam geworden: An der deutsch-niederländischen Grenze war ein Fahrer der Firma mit einer nicht unbedeutenden Menge Haschisch aufgefallen. Man hatte dem Mann nichts weiter nachweisen können, aber von dem Augenblick an war die Firma Brenner überwacht worden. Durch Telefonabhöraktionen waren dann sehr schnell die Hauptakteure bekannt. Drahtzieher der ganzen Aktion war der Prokurist der Firma gewesen, ein gewisser Dr.Keller. Das Rauschgift wurde von ihm zu einem Teil an einen Händlerring im Ruhrgebiet und am Niederrhein verteilt; der andere Teil wurde in die Niederlande transportiert und bei einem Großhändler dieser Branche aus Amsterdam gegen härtere Drogen eingetauscht.
Zum Zeitpunkt des Mordes an Carl Brenner war ein Transport nach Spanien unterwegs. Er musste am 28.8. in Algeciras sein und wurde am 3.9. zurück erwartet. Die ganze Strecke über wurde der LKW, der offiziell marokkanische Teppiche geladen hatte, observiert. Gleich bei der Ankunft sollte die Falle zuschnappen.
Und dann war das Zuschnappen der Falle ein riesiges Debakel geworden. Auf bundesdeutschem Boden angekommen, hatte der Lkw auch nicht ein Milligramm des Rauschgiftes mehr enthalten, dessen Zuladung die Beamten in Algeciras doch beobachtet hatten. Über 400 Kilogramm Haschisch im Wert von rund eineinhalb Millionen Mark waren spurlos verschwunden. Niemand hatte sich erklären können, wo die Fahrer unterwegs das Zeug losgeworden waren. Vor allem aber hatte nie geklärt werden können, wer die beiden gewarnt hatte.
Es hatte die schlimmsten Vermutungen gegeben: Die Kooperationsbereitschaft der spanischen und französischen Behörden war angezweifelt, Bestechlichkeit in Rechnung gestellt worden. Natürlich hatte man solche Vermutungen nicht einmal laut denken dürfen, aber letztlich war es auch ganz überflüssig gewesen: Es hatte nicht den geringsten Hinweis auf derartige Vergehen gegeben.
Auch ein Zwischenfall bei den Kollegen vom 3.K. war später als möglicher Grund des Scheiterns der ganzen Aktion in Erwägung gezogen worden. Es war nämlich etwas geschehen, das für die Polizei äußerst peinlich war, und gerade dadurch, dass man es zunächst wohl hatte vertuschen wollen, noch peinlicher geworden war.
Zwei übereifrige Streifenbeamte, die eigentlich wegen einer harmlosen Schlägerei in eine Discothek nach Buer gerufen worden waren, hatten bei dieser Gelegenheit einen Dealer festgenommen, aber eben nur einen ganz kleinen Fisch, der gerade ein paar Gramm Hasch an den Mann hatte bringen wollen. Solche Aktionen waren natürlich völlig unsinnig, da sie die einschlägige Szene nur verunsicherten und dazu führten, dass der Handel in andere, der Polizei nicht bekannte Gegenden verlagert wurde. Und für die nicht ganz so kleinen Fische war eine solche Aktion nicht einmal ein Nadelstich, eher ein willkommener Hinweis der Polizei auf zu unvorsichtige Mitarbeiter. Und die großen Fische konnten über so etwas ohnehin nur lachen.
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