Bremminger sah Börner entgeistert an. "Du bist ja völlig verrückt!", meinte er schließlich und schob das Telefon ärgerlich zur Seite.
"Wenn du jetzt nicht anrufst, Günter, dann wäre es besser, du wärst heute Abend gar nicht erst gekommen.“ Börner nahm den Hörer ab und wählte die Nummer. "Und wie ich dich kenne, willst du es doch selber auch genau wissen." Deutlich war das gleichmäßige Tuten des Apparates zu hören. Fassungslos nahm Bremminger den Hörer.
Hebemann war tatsächlich noch da, und plötzlich war Bremmingers Fassungslosigkeit verflogen. Er bedankte sich bei dem Kollegen, weil der alles so toll arrangiert hatte, bat noch einmal um Verständnis dafür, dass er selber schon so früh habe gehen müssen; es sei aber in der letzten Zeit alles einfach zuviel gewesen für ihn, schließlich sei er nicht mehr der Jüngste. Und dann stellte er die Frage nach Börner.
Je mehr sich Hebemanns Antwort ganz offensichtlich in die Länge zog, um so deutlicher konnte Börner die Veränderung in Bremmingers Gesicht sehen. Ohne noch ein Wort zu sagen, legte Bremminger schließlich den Hörer auf. "Es tut mir leid", sagte er leise.
"Es braucht dir nicht leid zu tun. Ich habe doch gesagt, ich wäre ohnehin nicht gekommen."
Bremminger nickte langsam und wirkte plötzlich sehr müde. "Ja eben. Das habe ich auch gewusst."
Nach diesem Vorfall wollte ihnen eine Rückkehr zu unverfänglichen Themen nicht mehr gelingen, und nur wenig später wollte Bremminger nach Hause. Börner half ihm in den Mantel und fragte, ob er ein Taxi rufen solle. Bremminger lehnte ab. "Lass mal, ich muss noch einen Augenblick an die frische Luft."
"Hast du etwas dagegen, wenn ich dich noch ein Stück begleite?"
Bremminger hatte nichts dagegen; aber es war Börner nicht entgangen, dass Bremminger eine ganze Weile mit der Antwort gezögert hatte. "Wie geht es Milewski denn eigentlich?", fragte er, als sie die Wohnung verlassen wollten.
"Ich glaube, ganz gut. Seine Frau ist schwanger. Siebter Monat."
"Ach, Ingrid ist mal wieder schwanger?"
Bremminger blieb in der geöffneten Tür stehen und sah Börner überrascht an. "Wieso denn wieder schwanger? Ist doch das erste Kind."
"Ach nur so", sagte Börner schnell und zog die Wohnungstür zu. "Es war dumm von mir. Vergiss es!"
Dann verließen sie das Haus.
An der Grenzstraße bogen sie nach links. Sie redeten kein Wort miteinander. Als sie die Bismarckstraße erreicht hatten, bogen sie wiederum nach links. In Höhe der Magdeburger Straße war eine Haltestelle der Straßenbahn. "Ich kann auch mit der Bahn nach Hause fahren", sagte Bremminger und schaute auf den Fahrplan. Die Bahn war gerade weg, die nächste würde erst in einer halben Stunde kommen. "Lass uns einfach ein Stück weiter gehen", schlug Börner vor, und Bremminger nickte zustimmend.
Die Bismarckstraße erfüllt alle Klischees, die es über den Kohlenpott gibt. Scheinbar endlos zieht sich ein planloses Sammelsurium von Häusern, die nicht einmal eine einheitliche Fluchtlinie bilden, die Straße entlang, unterbrochen durch brachliegende Flächen, Zechenbahnen und den riesigen Komplex der Zeche Consol, den eigentlichen Grund dafür, dass hier überhaupt irgendwann Häuser gebaut worden waren. Die Seitenstraßen enden meist schon nach wenigen Metern auf Feldern, Wiesen oder wilden Schrebergärten, und selbst gegen den dunklen Abendhimmel war das chaotische Durcheinander riesiger Strommasten und zumeist stillgelegter Fabrikanlagen auszumachen. Alles schien planlos, zufällig, nichts hatte hier Bedeutung.
"Eine gräßliche Gegend", sagte Bremminger nach einer Weile.
Börner grinste. "Finde ich gar nicht."
"Ich will dir ja nicht zu nahe treten; aber in Gelsenkirchen sollte man alles südlich des Kanals einfach abreißen."
Börner lachte. "Ich will dir auch nicht zu nahe treten; aber bei den Spießbürgern in Buer-Mitte könntest du mir ein Haus schenken, und ich würde doch hier wohnen bleiben.
"Was hält dich denn in dieser kaputten Gegend?"
"Ich weiß es nicht."
Mittlerweile hatten sie die Einmündung der Oststraße passiert. Vor einem ziemlich heruntergekommenen Haus blieb Börner plötzlich stehen. Von den Holzrahmen der Fenster platzte der kümmerliche Rest der Farbe, die Tür, die in einen schmuddeligen und nur spärlich beleuchteten Flur führte, war halb geöffnet. Neben den Klingelknöpfen standen nur ausländische Namen.
"Warum bleibst du stehen?"
Börner lachte kurz. "Hier hat Milewski mal mit seinen Eltern gewohnt. Von 1958 bis 1964."
Bremminger sah ihn verblüfft an. "Du scheinst ja über Milewski bestens informiert zu sein."
Wieder lachte Börner. "Bis zu der Geschichte vor vier Jahren war diese Bude fast eine Art Wallfahrtsort für mich. Ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich hier gestanden habe, nur weil Milewski hier einmal gewohnt hat." Es schien plötzlich so, als sei Bremminger für ihn nicht mehr da. "Sein Vater hat da drüben auf der Zeche gearbeitet. Ich habe mir damals tausend Geschichten über Milewski zurechtgelegt. Wie er als Kind hier gelebt hat, wie er sich durchboxen musste in diesem Milieu, wie er sich vor allem um das, was irgendwelche Erwachsenen sagen, einen Scheißdreck kümmerte. Und alle diese Geschichten hatten eines gemeinsam: sie waren anders als meine eigene Geschichte. Die war nämlich langweilig, überflüssig."
"Ich glaube kaum, dass Milewski deinen Proletenkult teilen wird", sagte Bremminger leise. "Der leidet doch heute noch daran, dass ihn die Familie seiner Frau nicht akzeptiert. Für die ist er beruflich und menschlich ein Nichts, ein kleiner Polyp, ein Prolet, der es geschickt verstanden hat, sich in die besseren Kreise einzuschleichen. In Wahrheit ist er eine arme Sau."
Börner nickte. "Das habe ich auch immer gewusst, aber ich wollte nicht, dass es so ist. Es passte nicht zu meinem Bild von Milewski." Und als er merkte, dass Bremminger etwas sagen wollte, fuhr er schnell fort: "Hast du nicht auch manchmal Angst davor, dass sich alles ringsum zu schnell verändert und kaputt geht?" Er zeigte auf das heruntergekommene Haus.
Bremminger sah ihn verständnislos an. "Was meinst du?"
"So schnell verändert, dass wir gar keine Möglichkeit mehr haben, die Geschichten zu überprüfen, die wir uns irgendwann einmal zurechtgelegt haben." Wieder schien Bremminger für Börner gar nicht anwesend zu sein. "Und schließlich wollen wir das alles auch gar nicht mehr überprüfen, weil es sich mit den alten Geschichten und Bildern viel einfacher lebt. Gerade wenn wir erkennen, dass sie nicht der Wahrheit entsprechen."
Noch immer schien Bremminger nichts von dem zu verstehen, was Börner meinte. "Wovon redest du eigentlich?"
"Von den Lebenslügen, die jeder hat und ohne die er nicht leben kann." Er sah Bremminger direkt an, und der wich seinem Blick aus. "Ohne die er nicht leben kann", wiederholte Börner noch einmal.
"Empfindest du immer noch etwas für Milewski?"
Die Frage hatte Börner offensichtlich aus dem Konzept gebracht. "Ja", sagte er ärgerlich und ging weiter. "Er ist mir völlig gleichgültig."
"Als du mich gerade gezwungen hast, in dieser Kneipe anzurufen, hatte ich aber nicht das Gefühl."
"Er ist mir völlig gleichgültig", sagte Börner noch einmal, und seine Stimme klang äußerst gereizt.
Sie gingen langsam weiter, und irgendwann empfand Bremminger die Stille zwischen ihnen als unerträglich. "Zumindest hat Milewski sich in den letzten Jahren verbessert." Noch einmal wandte er sich um und sah auf das heruntergekommene Haus.
"Im Gegensatz zu mir. Das meinst du doch?", fragte Börner.
Bremminger sah ihn überrascht an. "Ach, du bist ja verrückt!" Er machte einen hilflosen Eindruck. "Dreh einem doch nicht das Wort im Munde um! Und außerdem hat Milewski selber doch gar nichts dazu beigetragen. Was er hat, das kam doch alles von seiner Frau. Bei uns ist er doch noch nicht einmal befördert worden."
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