Die Prüflinge standen in einer Reihe. Das Gesicht zur Mittagssonne gerichtet. Alle zitterten vor Aufregung. Sie hatten nun ihre normale Kleidung gegen die Verwandlungskleidung getauscht. Die Mädchen hatten lange Kleider an und die Jungs Hosen. Die Kleider der Mädchen waren Rückenfrei, die Jungs hatten kein Hemd an. Die schwarzen Augenbinden passten nicht zu den beige farbenden Gewändern, aber das war wohl gewollt. „Eltern, tretet hinter eure Kinder!“ Die Eltern taten dies und legten jeweils eine Hand auf die Schulter ihrer Kinder. „Öffnet die Augenbinden und erhebt das Gesicht zur Sonne.“ sagte Alavin. Die Knoten lösten sich. In mir begann es zu kribbeln. Darauf hatte ich immer gewartet! Ich wollte es sehen! Ich wollte sehen, wie sich die Flügel ausbreiteten. Ich hatte mir immer vorgestellt, dass die Sonne die Flügel schuf. „Und nun entlasst sie in ihr neues Leben!“ Die Augenbinden fielen. Die Elfen sahen in die Sonne. Sämtliche Steine fingen an zu glühen. Mit einem Rauschen, das dem eines Ozeans in nichts nachstand, schoben sich plötzlich Flügelpaare aus den Rücken den Elfen. Sie zitterten zuerst und waren verschrumpelt, doch unter der Sonne richteten sie sich auf und trockneten. Sie fingen an zu schlagen. Sie leuchteten wie hunderte Prismen auf einem Haufen. Ich krallte mich ins Holz. Bei dem Anblick spürte ich ein Ziehen im Rücken. Und mir wurde bewusst- eigentlich müsste ich dabei stehen. Ich war 17. Das war mein Jahrgang da unten.
Die Prüflinge sanken erschöpft auf die Knie. Die noch winzigen Flügelchen zitterten und schlugen eifrig. Alavin nickte und die Eltern halfen ihren Kindern auf. Sie wurden geherzt und geküsst. Heiße Tränen rannen mir die Wangen hinunter. Ich wollte auch dort stehen. Ich wollte ebenfalls so geherzt und geküsst werden. Ich wollte ebenfalls Flügel ins Licht der Sonne strecken. Die jungen Elfen brachen in Tränen aus. Eine nach der anderen. Selbst die Jungs weinten und priesen die Sonne. Freudentränen ergossen sich über ihre Gesichter. Und auch ich weinte. Weinte vor Freude wie sie, dass ich das hatte sehen dürften. Weinte aus Trauer, dass es mir verboten war das zu erleben, dass ich es nicht erleben konnte. Und weinte aus Wut, über Alavin der mir das alles genommen hatte.
Der Jahrgang taumelte von den Eltern und Geschwistern gestützt zum Festzelt. Die kleinen Flügelchen hoch ausgestreckt und feierlich getragen. Jetzt wurde es uninteressant. Ich ging wieder nach unten.
Ich hatte mich gerade wieder ins Bett legen wollen, als die Haustür aufsprang. Ich tat verschlafen und blickte auf. Titan stand in der Tür. „Wo warst du bei der Zeremonie?“ fauchte er. „Hier im Bett, wieso?“ fragte ich ihn. Er presste seine Hand um meine Kehle und zog mich zu sich. Sein Gesicht war nur noch wenige Millimeter von meinem entfernt. „Weil ein 26. Sonnenstein da ist! WO WARST DU!?“ „Ich war hier! Ich schwöre! Ich war nicht bei der Zeremonie!“ sagte ich ängstlich. Meine Gedanken heulten auf. 26 Sonnensteine! „Nur eine Elfe kann einen Sonnenstein herbeirufen! Wo warst du!“ „ICH WAR NICHT DA!“ schrie ich ihn an. Er warf mich auf den Boden. Sein Stiefel stellte sich auf meine Brust. „Hör mal zu Aliona, es gibt Leute die würden dich umbringen und es gibt Leute die wollen dich nur quälen. Und im Moment bin ich nur einen einzigen kleinen Schritt davon entfernt dein Leben endlich zu beenden! Also sag jetzt die Wahrheit!“ „Ich hab dir die Wahrheit gesagt! Ich war nicht bei der Zeremonie! Serem hätte das nie zugelassen, er wittert mich doch auf hundert Meter!“ Titan schnaubte verächtlich. „Wenn ich dürfte, würde ich dich auspeitschen. Aber dieses Privileg hat leider nur der engste Kreis von Alavins Familie.“ „Eben auch Serem.“ „Genau. Aber wir wollen ja nichts riskieren.“ Er zog ein kleines Fläschchen heraus. „Nein! NEIN! Bleib mir weg mit dem Gebräu!“ rief ich und strampelte. Er setzte sich auf meine Brust und klemmte meine Arme unter seinen Knien ein. „Mach weit A!“ lachte er mich aus. Er konnte die Maske mit seinem kleinen Finger leicht anheben, das konnten nur Außenstehende, was ihm genug Spiel gab mir die Pipette zwischen die Lippen zu drücken und das Mittel zu verabreichen. Ich strampelte wie verrückt und er schraubte seelenruhig die Flasche zu. Meine Muskeln fingen an zu kribbeln. Sie wurden warm. Mein Kopf schottete sich ab, meine Sicht verschwamm. Das Mittel wirkte schnell. Ich hörte Titan noch lachen. Dann schloss ich die Augen.
Mit brummendem Schädel kam ich zu mir. Die Maske lag neben mir am Boden. Mir war schwindelig und ich hatte furchtbaren Hunger. Als ich auf die Uhr sah war es drei Uhr morgens. Und die ganze Zeit hatte ich hier auf diesem Holz gelegen.
Schnell flitzte ich in die Küche und machte mir etwas zu essen. Ich wollte jetzt schlafen gehen um den ganzen nächsten Tag zu verpennen. Ich hatte keine Lust auf irgendwas. Aber es spukte mir etwas im Kopf herum: „26 Sonnensteine. Für diesen Jahrgang! Oh mein Gott, was wenn? Wenn dieser Sonnenstein- für MICH gewesen ist?!“ sagte ich laut. Viele würden mich für verrückt halten (oder sie taten es sowieso schon) aber ich führte immer Selbstgespräche. Keiner redete wirklich mit mir, also redete ich mit mir.
Um vier Uhr war ich hellwach und hatte nach dieser Stunde Nachdenken partout keine Lust mehr schlafen zu gehen. Also nahm ich mir eine Zeitschrift und fing an das Lesen zu üben.
Ich war nie zur Schule gegangen. Dass ich vernünftig sprechen konnte, hatte einfach damit zu tun, dass in den ersten Jahren immer wieder eine Heilerin zu mir gekommen war, um mir etwas im Haushalt zu helfen. Aber Lesen? Oder Schreiben? Gar rechnen! Oh Gott, nie im Leben! Aber die Fenster zu den Klassenzimmern waren immer offen gewesen. So hatte ich mir das Alphabet beigebracht. Wann immer ich konnte, versuchte ich zu lesen. Aber allein war das Lernen schwer. Und schreiben war schon wieder was ganz anderes. Schreiben konnte ich nur, weil die Postbotin mir wohlgesonnen war. Annika war meine einzige Freundin. Wann immer sie konnte, kam sie nachts zu mir um mich zu unterrichten. Und damit ich ihr einen Brief für Leonardo mitgeben konnte.
Leonardo war einer der wenigen Elfen, der nicht in einem Dorf wohnte. Er hatte sich aus diesem Dorf zurückgezogen und lebte in Venedig oder so, irgendwo im Süden. Und er war ein Freund meiner Eltern gewesen. Er spendete mir Trost durch seine Briefe.
Es klopfte. Ich schrak so dermaßen zusammen, dass ich fast die Lampe umgestoßen hätte. Ich stopfte die Zeitung weg und fragte dann „Wer da?“ „Ich bin's Annika!“ Ich atmete erleichtert aus. Sofort war ich an der Tür und öffnete. Annika strahlte mir entgegen. Sie trug eine verzauberte Brille. „Schön dich zu sehen Aliona!“ sagte sie und umarmte mich. „Ich hab dich vermisst.“ flüsterte ich. Annika schloss die Tür. „Schau mal was ich dir mitgebracht habe!“ Sie zog ein Milchbrötchen aus der Tasche. „Ist –das?!“ fragte ich heiser vor Glück. Ich biss herzhaft hinein. Sofort fiel ich auf meinen Hintern. „Das ist immer so gut!“ sagte ich erleichtert. Mein Herz machte einen Hüpfer. Annika lächelte auf mich herab. „Ich war um Mitternacht schon mal hier. Aber da du nicht geöffnet hast und Titan damit geprahlt hat dich erfolgreich betäubt zu haben, bin ich wieder gegangen. Wie lang bist du schon auf?“ „Scheid schwei Schunden.“ nuschelte ich. Sie hob mich hoch und setzte mich in den Sessel. Das Milchbrötchen war schon aufgegessen. „Sieh mal was ich hier habe.“ Sie zog breit grinsend einen Briefumschlag heraus. Ich nahm ihn und schaute auf den Absender. „Leonardo da Gewici, Venedig“ Ich hätte fast vor Glück geschrien. „Schnell, lies ihn vor!“ bettelte ich. „Nein Süße, lies du ihn vor.“ „Ehrlich?“ Ich schluckte. Dann öffnete ich fahrig den Brief. Das rote Papier war mit weißer Tinte beschrieben worden. Darauf stand:
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