»Nein, ich habe keinen Menschen aufgesucht, Meister« ,zischte ich. Der Schweif des Drachenältesten schlug dicht neben meinem Kopf ein und Gestein flog umher. Er knurrte ungehalten – scheinbar unentschieden, mich in Stücke zu reißen oder doch Gnade walten zu lassen und mich zu verschonen. Er schaute mit seinen grimmigen Augen auf mich hinab und zögerte kurz. Ich schloss mein gesundes Auge und wartete auf das Ende.
»Verschwinde!«, fauchte er. »Und wag es ja nicht wieder, mich zum Narren zu halten!«
Dann drehte er sich um, hob seine mächtigen Flügel und rauschte dann mit einem lauten, zornigen Brüllen davon, das die Berge um mich herum erschütterte. Ich lag keuchend auf dem Boden, während ich leichte Erschütterungen um mich herum wahrnahm. Andere Drachen, die meiner Belehrung zugesehen hatten, trampelten nun schwerfällig wieder davon oder stiegen auf in die Lüfte. Aber ich achtete nicht weiter auf sie. Mit geschlossenen Augen lag ich auf dem kalten Berggestein und spürte den stechenden Schmerz meiner vielen Wunden, als wenn Tausende dünne Pfeile gleichzeitig meinen Leib durchbohrt hätten. Auch hörte ich, dass mein Herz wie verrückt raste. Kein Wunder, denn ich war ja soeben nur knapp einer Hinrichtung entkommen. Aber plötzlich spürte und hörte ich noch etwas anderes. Leichte Schwingungen und leises Rauschen von Flügelschlägen lagen in der Luft. Dann folgte eine kleine Erschütterung der Erde. Ich öffnete mein rechtes Auge, obwohl ich mir eigentlich schon denken konnte, wer da seinen langen Hals mitfühlend in Höhe meines Kopfes senkte.
»Und, alles in Ordnung mit dir?«
Mein Auge traf auf die fragenden, gelben Augen eines moosgrünen Drachens. Ich schnaufte amüsiert.
»Nein, ich liege hier bloß ein bisschen herum! Machst du mit?«
»Halb totgeschlagen und trotzdem immer noch zu Scherzen aufgelegt, was«, schnaufte der Grüne mit einem leichten Kopfschütteln und einem grimmigen Blick. Wieder ließ ich ein amüsiertes Schnauben ertönen. Ich mochte den moosgrünen Drachen. Wir beiden waren die einzigen Jungdrachen in den gesamten Bergen. Und er war nur einige Tage später als ich geschlüpft, was in der Welt der Drachen etwa eine unbedeutende Sekunde bedeutete, also nicht besonders viel. Dennoch war er nicht bei allen Drachen wirklich beliebt, da er ein wenig tollpatschig war. Einmal hatte er im Winter mit einem lauten Niesen eine Lawine ausgelöst, die unglücklicherweise einige schlafende Drachen verschüttete. Eine sehr kalte und ungemütliche Art, aus einem wohligen Schlaf geweckt zu werden. Aber da wir enorme Kräfte entwickeln und mit unserer Magie Feuer speien konnten, waren wir den erstickenden Schneemassen sofort wieder entkommen. Ich mochte ihn, trotz seiner Tollpatschigkeit. Denn er hatte sein Herz am rechten Fleck und war mutig. Außerdem war er ein echter Freund, der mich niemals im Stich lassen würde, auch wenn ich dreiundzwanzigtausendvierhundertdreiundsiebzig Drachentöter mit magischen Fähigkeiten herausgefordert hätte. Er würde sich als einer der Wenigen an meine Seite stellen und mit mir um Sieg oder Tod kämpfen. Er war der Einzige, dem ich voll vertrauen konnte.
»Ich werde bei dir bleiben. Und wenn du etwas brauchst, sag es mir einfach«, schnurrte er und legte sich nahe an meine Seite. Und wieder einmal bewies er mit seiner Tat, dass er einer der ganz großen war. Wenn ich ihm einen menschlichen Spitznamen geben sollte, würde ich ihn Freund nennen.
»Ich danke dir«, schnaufte ich und klappte erschöpft mein Augenlid zu.
Drachenbrück – Tumulte im Dorf
Mein Herz schlug immer noch wie wild, während ich über das Flachland in Richtung Heimat rannte. Schließlich hatte ich soeben einem lebendigen Drachen die Schnauze gestreichelt und wer konnte schon von sich behaupten, einen Drachen nur aus nächster Nähe gesehen zu haben. Ich hatte insgeheim schon immer von Drachen geschwärmt und sie nicht wie die anderen verachtet. Doch die Wache hatte ihn in der Todesschlucht gesehen und sofort Alarm geschlagen - Das erste Mal nach gut zwei Jahren. Ausgenommen letzten Frühling, als Hans bei der Wache eingeschlafen, mit seinem dicken Schädel gegen die Glocke geschlagen war und somit einen blinden Alarm ausgelöst hatte. Danach plagten ihn eine ganze Woche lang arge Kopfschmerzen. Das Dorf bestand aus vielen kleinen Häusern, die alle kreuz und quer aufgebaut waren. Die meisten von ihnen bestanden aus den einfachsten Materialien wie Holz, Stroh oder Lehm. Um die Häuser herum wuchs meistens schönes saftiges Gras, welches leider in den letzten Wochen von der unbarmherzigen Sonne in trockenes, totes Gestrüpp verwandelt worden war. Die wenigen Zugpferde, die sich nur noch vereinzelte Bürger halten konnten, fraßen das braune Zeug nur, damit sie nicht verhungerten. Bäume wuchsen hier fast überhaupt nicht. Der nächste Wald begann erst südlich an einem der beiden Berge, die uns beinahe vollständig umgaben. Unser Dorf galt als Brücke zu den Drachenbergen. Es stand am nächsten zu den Gebieten der Drachen und besaß keine Abwehreinrichtungen wie eine Mauer. Wenn die Drachen beschließen sollten, uns anzugreifen, dann würde das Dorf leichte Beute sein, zudem auch die vielen Holzhäuser schnell herunter brennen würden. Doch glücklicherweise war es bisher zu keinem Angriff gekommen, auch wenn er stark provoziert wurde. Hin und wieder kam es vor, dass eine Schar Soldaten des Königs hier rastete, um am nächsten Tag die Berge zu besteigen und einen Kampf anzuzetteln. Sonst zeigten sie sich nur, wenn wieder einmal Steuern abzugeben waren. Dass dabei viele Bewohner Hunger litten und keine Möglichkeit bestand, der Armut zu entkommen, scherte sie nicht. Allgemein gaben sich die Soldaten meist ungehobelt gegenüber den anderen. Wenn sie wütend wurden, zerstörten sie gerne Einrichtungen und plünderten. Sie nahmen sich, was sie wollten, auch wenn es die Jungfräulichkeit eines jungen Mädchens bedeutete. Doch momentan herrschte glücklicherweise Frieden in unserem Dorf. Noch jedenfalls.Denn wenn jemand einen Drachen gesehen hatte, herrschte immer Aufregung im Dorf, meistens noch Wochen nach dem Vorfall. Mein Vater hatte mir erzählt, dass auch die Soldaten des Königs gerufen wurden, die die ganze Situation nur noch verschlimmerten. Auch wenn sich der Drache nie wieder zeigte, wurde ihm der Krieg erklärt. Als ich vor der alten Holztür meines Vaters stand, atmete ich noch einmal tief durch, um mein auffälliges Schnaufen zu beruhigen. Dann schob ich das alte Holz zur Seite und trat in den allzu vertrauten Flur. Es war ein schmaler, kleiner Flur, dessen Boden aus abgetretenen Holzleisten bestand. Zu meiner Linken führte ein türloser Rahmen in einen benachbarten Raum, den wir als Küche und Wohnstube nutzten. Sonst gab es nur noch eine steile, ebenso abgetretene Treppe, die in unsere Kammer führte. Alles in allem hatte das gesamte Haus eine ziemlich düstere Atmosphäre, weshalb ich auch lieber draußen den Tag verbrachte und immer wieder mal Ärger mit meinem strengen Vater bekam.
»Vila? Bist du das? «, fragte er mit ernster Stimme und trat in den Flur. Seine große und abgemagerte Statur zeichnete sich unter seinem teils zerfetzten Wams und seiner kurzen Stoffhose ab. Um seine rechte Hand waren vergilbte Bandagen gewickelt, die eine schmerzhaft entzündete Wunde verdeckten. Er hatte sich die Hand bei der Jagd nach einem jungen Bock verletzt, als er ausrutschte und hingefallen war. Ein dicker Splitter hatte sich durch seine Hand gebohrt und eine gefährliche Entzündung hervorgerufen, die unser Leben noch weiter verschlechterte, da mein Vater jetzt auch nicht mehr richtig jagen konnte. Seine einst dunkelblonden Haare waren mit vielen neuen, grauen Strähnen durchzogen. Das Gesicht wirkte eingefallen und wurde von sorgenvollen Falten zerfurcht, obwohl er noch nicht alt war. Nicht das Alter oder eine Krankheit hatten sein einst hübsches Aussehen so verändert, sondern mehr oder weniger die Soldaten des Königs. Dieses Jahr kamen sie öfter vorbei und zogen Steuern ein, welche in unserem Fall meistens Lebensmittel waren, die wir selbst zum Überleben brauchten. Auch die anderen Dorfbewohner ereilte das Schicksal der Armut und des Hungers. Deshalb hatten wir selbst nur noch wenig zu essen, und das meiste seiner Mahlzeiten gab der Vater mir ab. Wenn ich ihn daraufhin böse anstarrte, behauptete er fest, dass ich ja noch wachse und er deshalb nicht ganz so viel benötige. Er war ein guter Vater, verzichtete selbst auf die nötigsten Lebensmittel, damit es wenigstens seiner Tochter gut ging, während er selbst sich langsam dem Sterben hingab. Doch nun stand er mir gegenüber. Und er stand mir nicht irgendwie gegenüber, sondern mit einer so ernsten Miene, dass ich mein Unglück schon erahnen konnte.
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