„Silver & Gold” (2000)
Das Leben ist gewöhnlich ein langer schäumender Fluss, wenn man Neil Young heißt, aber diesmal ist es ein ruhiger. Initiiert gleichsam als Endpunkt einer Trilogie, die 1972 („Harvest“) begann und 1992 („Harvest Moon“) fortgeführt wurde, ist „Silver & Gold“ fast schon das Resümee einer Hälfte seiner Karriere: der akustischen. Die eruptive andere, durchstürmt mit Crazy Horse, muss noch reflektiert werden. Hier aber zittert sich Youngs Stimme durch zehn intime Songs, die eins gemeinsam haben: den versöhnlichen Grundton. Hinreißend die nostalgisch aufgehellte Erinnerung an seine erste große Band in „Buffalo Springfield again“. Seinen alten Freundfeind Stephen Stills wird es rühren. Und wir stellen diese CD neben „Harvest“ ins Regal, auch wenn selbst einem Genie wie Young keine Songs wie „Heart of Gold“ mehr gelingen. Vielleicht ist sein Album deshalb so nostaglisch: weil auch er das weiß.
Neues Glas Aus Alten Scherben
„Live” (2000)
Neues Glas Aus Alten Scherben: Der Name sagt schon alles. Mit Rio Reisers Tod wurden die Berliner Anarchorocker Ton Steine Scherben Geschichte; NGAAS, rekrutiert aus Scherben wie Dirk Schlömer und Reisers Begleitband aus seiner Solophase, wollen sie dennoch fortschreiben. Denn Geschichte wird gemacht, und nicht nur von den Bonzen, nicht wahr? In einem feurigen Liveset spielen sie sich durch einen Klassiker nach dem anderen, wobei das größte Risiko – der Sänger – sich als kongenial erweist. Michael Kiessling klingt wie Rios Wiedergänger, nicht nur stimmlich, auch in puncto Engagement. Erleben wir gerade die Avantgarde einer linken Renaissance? Eine Dekade nach dem Untergang des immer und trotz alledem sinnstiftenden Ostblocks könnte die Lethargie sich legen und eine neue, unschuldigere Lust am Widerstand auflodern. „Der Traum ist aus“? Nein, nach diesem furiosen Rockspektakel ist zumindest „Land in Sicht“.
Nguyên Lê Trio
„Bakida” (2000)
Manchmal erinnert der transparente Sound von Nguyên Lê an seinen norwegischen Gitarrenkollegen Terje Rypdal, vor allem im Titelstück. Lê allerdings vermeidet das melancholische Pathos, in das Rypdal bisweilen verfällt, fängt es ab mit folkloristischen Figuren, die Tino di Geraldo perkussiv unterstützt. Der Frankovietnamese Lê ist ein Ausnahmekönner auf der Gitarre; asiatische Traditionen und Stimmungen treffen in seinem Spiel auf Rock- und Jazzmuster, er verschmilzt Lyrik mit Härte, die Weite des Klangraums mit intimer Innerlichkeit. Großartig auch der quirlige Bass von Renaud Garcia-Fons, den der Rhythmusjob keinesfalls ausfüllt, weshalb er sich immer wieder in die melodische Textur der Stücke einmischt. Ein weltmeisterliches Trio des Weltjazz, ergänzt durch viele Gäste aus dem Hause Act.
Nick Cave
„The secret Life of the Love Song” (2000)
„Words endure, flesh does not“, sagt diese volle, sonore Stimme, die hinwegfließt über die Worte, bis sie ankommt beim t und es klingen lässt, als explodierte der Körper einer Ameise, die man über ein Streichholz hält. Nick Cave ist ein großer Musiker, vielleicht ein noch größerer Vorleser. Seinem fast 50-minütigen Vortrag über „Das geheime Leben des Liebeslieds“ verfällt man binnen kurzer Zeit, auch wenn Caves selbstanalytische These wunderlich erscheint, der Tod seines Vaters habe ihm eine religiöse Lücke offenbart, die er erst mit der kultischen Handlung des Liebesliederschreibens wieder schließen konnte. Zwischendurch spielt Cave am Klavier Songs wie „Sad Waters“, und plötzlich scheint die wunderliche Selbstanalyse nichts weniger als die reine, transzendente Wahrheit.
Novastar
„Novastar” (2000)
Joost Zweegers heißt einer jener farblosen Jungs, die zu Hause herumsitzen und schöne Songs zur Gitarren schreiben, weil sie damit Mädchen erobern können, die sich sonst für farblose Jungs nicht interessierten. Doch nicht nur Mädchen, auch die Charts – zumindest in seinem Heimatland Belgien – hat Joost erobert, als „Novastar“. Novastar: Ganz schön großspurig für einen farblosen Jungen, aber vielleicht gar nicht so falsch. Er hat epische Melodien und mindestens einen Hit („Wrong“), und seine Songs stecken in Gitarrenpopklamotten, die auch außerhalb Belgiens in Mode kommen sind. Vielleicht erobert der farblose Junge bald auch deutsche Mädchen.
Oasis
„Standing on the Shoulder of Giants” (2000)
Wie hätte ich mich 1970 gefühlt, wenn mir in einer kleinen Bar unter konspirativen Umständen das „White Album“ der Beatles vorgespielt worden wäre – euphorisiert, irritiert, bewegt? All das wahrscheinlich, auf einmal. Und wie fühle ich mich heute, nachdem man mir unter konspirativen Umständen das neue Album von Oasis vorgespielt hat? Gleichgültig. Ich habe mich geärgert über die Kollegen, die respektlos gequatscht haben die ganze Zeit. Immer lauter, je länger die Platte lief. Ich habe mich geärgert, aber wahrscheinlich war es nur gerecht. Vielleicht hat das Album sogar Marks Geste verdient, die er irgendwann bei Stück neun über den Tresen zu mir rüberschickte: drei Finger in den Mund. Nein, das ist doch zu hart. Ein Oasis-Album hat noch immer Liams Gesang, diesen gepressten, immer ein wenig zu lauten, immer knapp die Noten verfehlenden Stil. Es hat noch immer ein paar Refrains, von denen ich denke, dass es gut ist, dass es sie gibt. Aber es wurden immer weniger, von Album zu Album. Hier gibt es die wenigsten. Dafür zieht sich ein abgedroschener Dancegroove durch, der Modernität beweisen soll. Doch diese Musik wirkt seltsam kraftlos, erstarrt in selbstgeschaffenen Klischees, die andere inzwischen besser reproduzieren als sie selber. Kommen nach sieben fetten jetzt sieben magere Jahre für Oasis? Die übersteht man nicht im Pop, das ist sicher.
Pearl Jam
„Binaural” (2000)
Die ersten drei, vier Songs platzen auf wie Eiterbeulen. Nichts als Lärm und Dreck, weggehauen in drei Minuten: Statements gegen jeden Verdacht der Verpoppung von übriggebliebenen Altgrungern, die als einzige ihres Genres noch etwas zu sagen haben in einer Welt, die sich verändert hat. Manchmal spielt Eddie Vedder noch immer den Bedenkenträger, dann ist er gut. Ein andermal möchte er witzig sein, und das passt zu ihm wie Shakespeare zu Zlatko aus „Big Brother“. Pearl Jam wird nie mehr ein Album wie „Ten“ gelingen. Doch was sie auf „Binaural“ an Wut und epischen Balladen raushauen, hat noch immer Klasse.
Peter Gabriel
„Ovo – The Millennium Show” (2000)
Gut: Dies ist nicht das lang erwartete neue Soloalbum eines der hellsten Köpfe des Pop. Doch selbst wenn es nur darum geht, die Musik für eine Touristenattraktion – den Millennium-Dome in London – zu schreiben, hätten wir nach elend langen Jahren des Schweigens von Gabriel mehr erwartet als ein Multikultiwischiwaschi mit globalen Gästen (Neneh Cherry, Liz Fraser, Richie Havens etc.) und hohem Beliebigkeitsgrad. Dreimal täglich wird dieser westöstliche Divan aus garantiert kochwaschgangfestem Polyester im Dome gespielt, umrahmt von Artisten und Hochseilkünstlern, weshalb das Gesamtkunstwerk für uns nicht beurteilbar ist – doch zumindest die Musik ist Grund genug, maximal einmal hin zu gehen.
Peter Green with Nigel Watson Splinter Group
„Hot Foot Powder” (2000)
Innovativ war Peter Green zuletzt … ja, wann eigentlich? 1983 mit „Kolors“? Oder doch eher bereits auf der elegischen „In the Skies“ von 1979? Heute jedenfalls spielt er den Blues so traditionell wie selbst einst mit Fleetwood Mac nicht. Schon die Auswahl der zahlreichen Robert-Johnson-Covers belegt das. Dabei entschwebten Peter Green einst die großartigsten Gitarrenmelodien, die der Rock je gesehen hatte; der soeben Grammy-geehrte Santana musste ihm schon genau auf die Finger schauen, um über die Nachahmung seinen eigenen Stil zu finden. Tragisch, dass diese Kreativität, dieser Genius im Verborgenen schlummern, verschleiert von einem Blick, der nur zurückschaut, der offenbar Angst hat vor dem, was drohen könnte, würde er wieder etwas wagen. Ein Album für Puristen. Nicht mehr.
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