Donna Dolores zögerte einen Augenblick, dann setzte sie sich an das Instrument und ließ die Hände präludierend über die Tasten gleiten. Und sie sang ein einfaches kleines Lied, kurz wie ein Intermezzo.
„Es hat die Rose sich beklagt,
Dass gar zu schnell ihr Duft verwehe,
Den ihr der Lenz gegeben habe.
Da hab ich ihr zum Trost gesagt,
Dass er durch meine Lieder wehe
Und dort ein ew'ges Leben habe.“
Und wie sang sie es! War diese süße, zauberische, weiche Stimme dieselbe, die vorher das Teufelinnenlied von der Bühne herabgejauchzt? Wie eine Verheißung zog Wort und Ton durch das lautlose Gemach.
Und atemlos lauschte der kleine Kreis, als Dolores geendet hatte und leise das Nachspiel erklingen ließ. Dabei schweifte ihr Blick dahin, wo die Skizze des Falkenhofes auf der Mappe lag, und es schimmerte feucht in ihren Augen. In weiche Mollakkorde löste sie die Melodie des Liedes von Mirza Schaffy auf und ging in eine andere über –
„Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit
Klingt ein Lied mir immerdar –“
sang sie leise, wie im Traum. Herzerschütternd schwollen die Töne des schlichten Volksliedes an, und durch die einfachen Worte klang es wie ein Schluchzen –
„O du Heimatflur, o du Heimatflur,
Lass zu deinem heil'gen Raum
Mich noch einmal nur, mich noch einmal nur
Entfliehn im Traum.
Keine Schwalbe bringt, keine Schwalbe bringt
Dir zurück, wonach du weinst;
Und die Schwalbe singt, und die Schwalbe singt
Im Dorf wie einst.“
Die süße Stimme verklang, und die Sängerin ließ die Hände herabsinken von den Tasten. Ihr gegenüber stand Alfred von Falkner, das Auge wie gebannt auf sie gerichtet, die er vorhin so hart verurteilt hatte. Und das Lied –? Es stieg vor seinem geistigen Auge empor wie eine Erinnerung in verschwommenen Umrissen, als das Lied ertönte. War dieses Lied nicht einst in den Kreuzgängen des Falkenhofes erklungen von einer frischen, hellen Kinderstimme –? Er strich mit der Hand über die hohe Stirn und sann und sann – und es war ihm fast, als müsse er in den frohen Tagen seiner Jugendzeit, in den engen Grenzen der Knabenjahre die Gestalt eines Spielgefährten suchen – ja, da war's ihm, als höre er ein kurzes, helles, spöttisches Lachen –
„Und die Schwalbe singt, und die Schwalbe singt
Im Dorf wie einst – –“
sang Donna Dolores dort am Flügel die Schlussworte ihres Liedes – und versunken waren mit einem Male die abgeblassten, vergessenen Gestalten – zerronnen in ein Nichts, aus dem sie entstanden.
„Das nenne ich Musik“, rief Balthasar nach einer Pause und trat auf die Sängerin zu, „das bebte durch die geheimsten Fibern der Seele, denn es war mit dem Herzen gesungen.“
Donna Dolores fuhr empor und richtete sich aufatmend hoch auf. Dann lachte sie kurz, hell und spöttisch, dass Falkner zusammenzuckte, denn ihm kam dieses Lachen so bekannt vor – und ein dunkler Blitz aus ihren schönen Augen huschte auf ihr Gegenüber.
„Mit dem Herzen?“ wiederholte sie laut und deutlich, „Sie irren, Professor. Ich spielte heute in der ›Satanella‹ mein eigenstes Selbst – nicht einen warmen Herzenston vermag ich anzuschlagen, eben weil ich kein Herz habe – –“
Falkner zog die Stirn in Falten, als ihm die Sängerin seine eigenen Worte wie eine Spottdrossel wiederholte – dann zuckte er mit den Schultern, verächtlich, hochmütig.
Da sprühten ihm die schwarzen Augen einen wahren Teufelinnenblick zu – es schien fast, als ginge ein rotes Feuer aus diesem Blick hervor – und wieder lachte der feine, blassrote Mund jenes seltsame, sinnverwirrende Lachen.
„Sie sind ein guter Psychologe und Physiologe, Herr von Falkner“, rief ihm Donna Dolores zu – es waren die ersten Worte, die sie an ihn richtete, „Ihr feines Gefühl hat Sie nicht betrogen – ich selbst habe die ›Satanella‹ komponiert!“
Ein allgemeines „Ah“ der Überraschung erscholl, und Falkner biss sich auf die Lippen – er ärgerte sich mit einem Male über sein Urteil, er ärgerte sich, dass er recht hatte. Donna Dolores aber ließ ihre Hände wieder über die Tasten des Flügels gleiten, wild, wirbelnd erschollen die rauschenden Akkorde, mit denen das Volk in der „Satanella“ den Holzstoß entzündet, um die Hexe zu verbrennen, die sich nun mit einem Male in das nimmer vertilgende, ewig lebende böse Prinzip, in den Fluch verwandelt, der auf der Welt seit ihrem Beginne ruht. Mächtig schwollen die Akkorde an, und mächtig setzte die Stimme der Sängerin ein:
„Lebt wohl, so lang der Sonne Leuchten
verklärt des Weibes ew'ge Macht,
So lang noch Leidenschaften glühen,
So lang noch Schönheit lockend lacht,
So lang noch Männerherzen brechen
Betrogen durch ein falsches Weib,
So lang, so oftmals kehr' ich wieder,
In eurer Mitte stets ich bleib'!
Entfacht der Flamme rote Gluten,
Ihr schafft mich nicht aus dieser Welt,
Denn wo sich Männerhochmut brüstet,
Mein Zepter reiche Ernte hält.
Ich wohn' in jedes Weibes Herzen,
Ich beuge jedes Mannes Macht,
Ich bin die Schlang' des Paradieses
Ich stifte Unheil – drum habt acht!“
Sie schloss mit einem rauschenden Akkord, durch den es wie das Knistern von Flammen klang, und sprang dann empor.
„'s ist Zeit zur Ruhe – gute Nacht!“, rief sie und war verschwunden, ehe die anderen sich dessen versahen.
Drunten vor der Tür stand der leichte Wagen der Sängerin, die Pferde stampften schon lange vor Ungeduld, und als Dolores eingestiegen war, entführten sie ihre leichte Last in raschem Trabe nach dem Hotel, das die „Brasilianerin“ bewohnte. Ihre schwarze Kammerfrau und Duenna in einer Person, die herkulische alte Negerin, hatte schon alles zur Ruhe vorbereitet.
„Tereza“, sagte Dolores auf spanisch, als ihr die Negerin das Haar zur Nacht einflocht, „Tereza, wen meinst du wohl, habe ich heut gesehen? Den ›Erben vom Falkenhof‹.“
„Alle Heiligen – den Alfred? Hat er dich erkannt, Herrin?“
„O nein – und ich hab' ihm auch kein Wort darum gesagt. Er ist ein schöner, großer Mann geworden, hochmütig und zurückweisend ernst.“
„Wie die ganze Falkenbrut“, murrte die alte Tereza. „Nun, lass ihn laufen. Du brauchst ihn nicht und den Alten auch nicht mit seinen klappernden Krücken.“
„Nein, ich brauche ihn nicht“, sagte Donna Dolores, „aber“, setzte sie mit zuckenden Lippen hinzu, „aber wiedersehen möcht' ich den Falkenhof doch. „
„So kaufe ihnen das alte steinerne Nest ab, Herrin!“, riet Tereza.
„Das geht nicht“, erwiderte Dolores sinnend, „es ist ein Lehen –“
„Was ist das?“
„Das ist – ach Tereza, ich bin müde und möchte schlafen.“ Sie sank in die weichen Kissen und schloss die Augen.
„Der Erbe vom Falkenhof!“, murmelte sie im Einschlafen.
Bei Professor Balthasar trennte man sich bald, nachdem Donna Dolores sich entfernt hatte.
„Es freut mich“, hatte Keppler gesagt, nachdem sie gegangen, „es freut mich, dass sie gerade die ›Satanella‹ komponiert hat, und dass sie's bekannte trotz Ihrer scharfen Äußerungen, Baron Falkner, die sie gehört haben muss.“
„Das bestätigt nur meine Worte“, erwiderte der Legationsrat und ergriff seinen Hut.
„Nun, ich kann das doch nicht so ohne Weiteres zugeben“, meinte Balthasar nachdenklich, „dass sie mit ihrem Bekenntnis das harte Urteil bestätigte, gerade das beweist, dass sie es nicht zu scheuen hat.“
Falkner zuckte die Achseln.
„Da gehen unsere Ansichten auseinander, Professor. Die Kühnheit der Falconieros blendet Sie, wie ihr Genie die Menge. Mir ist dieses laute Bekenntnis der eigenen Herzlosigkeit mehr zuwider, als ich es ausdrücken kann.“
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