Die letzten Worte hatte er sehr scharf, beinahe drohend hervorgestoßen. Nun wurde seine Stimme wieder weich: „Und nun sprechen wir von anderen, von erfreulichen Dingen! Ich sehe dir doch an der Nasenspitze an, dass du eine Menge Fragen auf der Seele hast. Nun, heraus damit!“
Suzan Bergstoh war noch immer in Gedanken bei den bisherigen Ausführungen ihres Gegenübers, und sie schauderte vor den mächtigen Feinden, die sie sich gemacht hatte. Konnte der Graf ihr tatsächlich helfen? Hatte er so viel Macht, sie vor dem Untergang zu bewahren? Ihr war inzwischen klargeworden, dass es nicht nur um ihre Demission als Ministerin ging. Man wollte ihr Leben zerstören, und die Weichen dafür waren schon gestellt. Ein ehemaliger Bundespräsident fiel ihr wieder ein.
Doch der Graf erwartete eine harmlose Frage. Er wollte nun zum gemütlichen Teil des Abends übergehen. Ihr fiel nichts Besseres ein als: „Wer sind Sie?“
Er lachte laut: „Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und doch das Gute schafft.“
Aber Suzan hakte ernst nach: „Sind Sie der Graf von Saint Germain?“
Diesmal lachte der Mann nicht, obgleich sie es erwartet hatte. Er sah sie ruhig an, während seine Hände, diese wundervollen Hände, den letzten Bissen Zander mit dem Messer auf die Gabel schob.
„Wie kommst du darauf?“
„Man sagt so etwas. Ich weiß natürlich, dass es Unsinn ist. Aber irgendetwas muss an dem Gerücht doch sein?“
„Oh je, Gerüchte gibt es viele, und Wahrheiten sind leider spärlich gesät.“
„Wie alt sind Sie?“
„Was spielen Lebensjahre schon für eine Rolle? Ich bin jung und sehr alt zugleich.“
„Was meinen Sie damit?“
„Ich habe viel gesehen und erfahren und habe mir doch die geistige Jugend, die Neugierde, das Staunen und den Mut, Fehler zu machen, bewahrt.“
Dann wechselte er das Thema. Später fragte sie ihn noch nach dem Tattoo auf seinem Unterarm. Er war erstaunt und wollte wissen, woher sie davon Kenntnis hatte.
„Ich habe es bei meinem Besuch in Ihrem Labor gesehen.“
„Kompliment, du passt wirklich auf. Es ist ein altes Erkennungszeichen. Heute benötigen wir diese Zeichen nicht mehr. Aber ich finde die Tätowierung noch immer hübsch und aussagekräftig.“
Sie saßen bis nach Mitternacht in dem Lokal. Der Kellner hatte inzwischen verschiedene Weine gebracht, und stets hatte der Graf gut gewählt. Er war wie immer geistreich und amüsant, erzählte Geschichten aus der Vergangenheit und aus der Gegenwart. Er schien alle wichtigen Leute zu kennen und mit ihnen vertraut zu sein.
Suzan stellte mit Verwunderung fest, dass es Graf Manderscheidt tatsächlich gelungen war, sie für eine Weile ihre Probleme vergessen zu lassen und sie auf andere Gedanken zu bringen.
Dann fuhren sie in der großen Limousine durch die Nacht zurück. Suzan saß entspannt in den Polstern. Sie war satt, wohlig müde und irgendwie heiter. Ein Gefühl, das sie lange nicht mehr empfunden hatte. Die Lichter Berlins huschten an den Fenstern vorbei. Der Verkehr war zu dieser Zeit schwach, und sie kamen rasch voran. Der Graf und die Ministerin schwiegen.
Plötzlich sagte er: „Weißt du eigentlich, dass dein Mann erpresst wird?“
Mit einem Schlag war das schöne Gefühl wie weggewischt. Die Spannung hatte wieder von ihrem Körper Besitz ergriffen. Der schöne Abend war beendet.
„Wer erpresst ihn?“
„Vier seiner Schülerinnen.“
„Was haben sie gegen ihn in der Hand?“
„Eigentlich nichts Ernstes. Er hat mit einer von ihnen ein wenig geknutscht.“
„Und was wollen sie von ihm?“
„Anfangs nur gute Noten. Er hat sich nicht zur Wehr gesetzt, sondern nachgegeben. Nun steigen die Forderungen. Jetzt wollen sie Geld.“
Deshalb also wollte Simon versetzt werden. Es ging ihm nicht um Sanktionen, denen er nach ihrem Rücktritt ausgesetzt wäre. Nein, er hatte sich in der Schule in eine unmögliche Situation gebracht und wollte fliehen. Dieser feige Lügner! Aber sie hatte auch Schuldgefühle. Nur weil sie ihn vernachlässigt hatte, musste er sich seine Selbstbestätigung bei den eigenen Schülerinnen holen. Die erkannten mit weiblicher Intuition seine Schwäche und nutzten sie aus. Sie war unfair zu Simon gewesen, hatte ihre Karriere über die Ehe gestellt. Das war Unrecht, das wusste sie.
„Ich werde das in Ordnung bringen“, sagte sie dem Grafen.
Dann waren sie vor ihrem Haus angekommen. Das Auto hielt, und sie erwartete, dass der Graf wieder eine seiner demütigenden sexuellen Handlungen von ihr verlangte. Doch er machte keinerlei Anstalten.
Sie bedankte sich für den Abend, für sein Verständnis, für seine Hilfe und für seine Informationen. Dann wollte sie aussteigen. Als sie ihm jedoch die Hand zum Abschiedsgruß hinhielt, drückte er ihr den bekannten Ring in die Hand.
„Bitte trage ihn wieder“, sagte er mit weicher Stimme.
Sie nickte stumm. Sodann sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ: „Du wirst ab jetzt keinen Sex haben, bis ich es dir wieder erlaube. Weder mit deinem Mann, noch mit einem anderen Mann, noch allein. Wenn du es brauchst, rufe mich an und bitte um Erlaubnis.“
Da war sie also wieder die sexuelle Anmaßung, die Demütigung. Er konnte es einfach nicht lassen. Doch sie widersprach nicht.
‚Das ist eine leichte Bedingung‘, dachte sie und nickte. ‚Ich komme kaum vor 24 Uhr nach Hause und muss bereits um sechs Uhr schon wieder aufstehen. Da bleibt nicht viel Zeit für Sex. Und wie will er überhaupt überprüfen, ob ich mich daranhalte? ‘
Und tatsächlich hatte sie in den letzten Jahren von sich aus kaum an Sex gedacht und ihn auch nicht vermisst.
Doch kaum war die Abmachung getroffen, da verspürte sie schon so etwas wie Sehnsucht. Es war ein Sehnen, das sich mehr und mehr in ihrem Körper ausbreitete.
Der Graf schien in sie hineinsehen zu können.
„Siehst du, es beginnt schon“, sagte er. „Es wird schwer für dich werden.“
12
Während der nächsten Tage schien sich alles wie durch ein Wunder zum Guten zu wenden. Die bösartigen Artikel in den Zeitungen wurden weniger, auf SPIEGEL-online und FOCUS-online wurde ihr Name nur noch im Zusammenhang mit der nächsten Klimakonferenz erwähnt.
Eine der großen Zeitungen brachte sogar in der Wochenendausgabe einen Leitartikel:
„Vox populi
Bei den alten Römern gab es ein Sprichwort ‚vox populi, vox bovi‘, also die Stimme des Volkes ist die Stimme des Rindviehs. Wenn man das absurde Kesseltreiben verfolgt, mit dem seit einiger Zeit die Autorität der Umweltministerin, Suzan Bergstoh, untergraben wird, dann muss man den alten Römern Recht geben.
Was ist eigentlich geschehen? Die Ministerin hat Leute aus ihrem Wahlkreis eingeladen, und weil sie ihre eigene Kreditkarte vergessen hat, wurde die Zeche mit der Kreditkarte des Ministeriums bezahlt. Am nächsten Tag hat sie ordnungsgemäß den Betrag an die Staatskasse zurücküberwiesen. Eine Banalität also, über die man eigentlich kein Wort zu verlieren bräuchte. Aber was hat Volkes Stimme daraus gemacht? Wie hat der Neidfaktor die Gemüter aufgeputscht?
Das ging so weit, dass man sogar den Rücktritt der Ministerin gefordert hat, so als ob unser Land über eine unbegrenzte Zahl hoch qualifizierter Politiker verfügen könnte. Da hat man endlich eine international anerkannte Fachfrau, und was tut man, man versucht sie mit allen Mitteln zu demontieren. Vox bovi!“
Dieser Artikel tat Suzan unendlich gut und beruhigte ihre Nerven. Sie las ihn dreimal und fühlte sich endlich rehabilitiert.
Noch am Wochenende rief die Kanzlerin bei ihr an und versicherte, dass sie hinter ihrer Ministerin stehe und ihr volle Rückendeckung gebe. Diese unsinnige Polemik in den Medien müsse nun endlich ein Ende haben.
Im Büro erhielt sie den ganzen Tag über Anrufe von den verschiedensten Leuten. Die Anlässe waren zum Teil an den Haaren herbeigezogen, man wollte sich lediglich bei der Ministerin, die so überraschend von den Toten auferstanden war, in Erinnerung bringen. Suzan ging auf das Spiel ein. Sie war heiter und charmant und verabredete sich mindestens mit fünfzehn Leuten zum Essen.
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