Aufhetzer seines Schlages wussten, dass der einfache Mann von der Straße reif war. Mürbe geredet von linken und rechten Populisten, eingeschläfert durch die untätige Schönrederei der Mitte. Dem einfachen Mann war der Boden entzogen, fehlte die Orientierung. Die Volksseele verelendete von innen heraus und war schwach genug, zerschmettert und anschließend mit neuen Werten ausgerüstet wieder aufgebaut zu werden. Dieses Wissen war für ihn und seine Brüder im Geist der Stern von Bethlehem, der sie unbeirrbar leitete. Sie würden gewinnen!
Er würde die Schuld der aktuellen Misere den Gutmenschen in die Schuhe, respektive die Birkenstock-Sandalen schieben. Die Gutmenschen machten es ihm und seinen Brüdern leicht, weil sie blind für die Integration der fremden Elemente kämpften. Dabei wollten sich die Fremden nicht integrieren. Doch die Schönschwätzer leugneten und versteckten sich hinter lahmen Plattitüden wie Humanität oder soziale Gerechtigkeit und entzogen sich der Verantwortung, das eigene Volk zu schützen. Die fleißigen Bürger, die den Reichtum und den Frieden in diesem Land über Jahrzehnte erarbeitet hatten.
Er würde gegen die Schönschwätzer donnern, weil sie nur davon ablenkten, dass diese Eindringlinge auf das Volksvermögen aus waren, sich einen Dreck um Gesetze und Kultur scherten und den inneren Zusammenhalt zerstörten. Er würde dazu aufrufen, dass der gute Bürger nicht länger zusehen durfte und dem laschen Gehabe der Gutmenschen Einhalt gebieten musste. Er würde sie gegen den Staat aufhetzen und erzählen, dass die Regierung mit den Schönschwätzern und Gutmenschen unter einer Decke steckte. Dass der Staat den arbeitsscheuen, vergewaltigenden Eindringlingen verschenkte, was dem Volk gehörte.
Ja, der Populist war vom Fach, ein schwarzer, undurchschaubarer Schamane, der sich nicht in die Karten blicken ließ. Er kannte die Krankheit der Volksseele und wusste, wie sie zu kurieren war. Die Kur hieß Angst zu schüren und das Fremde aus zu grenzen. Er würde diese Nacht gut schlafen, weil sein widerwärtiges, sengendes Feuer, das an der dünnen Naht des gesellschaftlichen Zusammenhangs nagte, an ein einer weiteren Stelle glimmen würde.
Mirko fotografierte und notierte. Vielleicht würde sich eine Story ergeben, die er an zweitklassige Provinzblätter vertickern konnte, die keine Kohle übrig hatten, selber Reporter zu diesem Anlass zu schicken. Blätter, die dazu verdammt waren, auf Titelseiten die Wahl der 'Miss Apfelmost' oder die prämierte Schönheit der Viehschau vom Wochenende zu bringen. Blätter, die darauf angewiesen waren, dass der Biobauer, der Handaufleger und die Bauchtanzlehrerin in der Gegend regelmäßig inserierten.
Ihn interessierten weder der Bürgermarsch, noch der geifernde Demagoge, noch die Demonstration. Er hoffte auf Action. Die Wahrscheinlichkeit sprach für eine Polizeiaktion mit Pepp und einer ausgewogenen Portion Gewalt. Er spekulierte auf Schnappschüsse, wie Polizisten auf Zivilisten einschlugen. Vielleicht noch ein paar Wasserwerfer, einen Schuss Tränengas und Blut. Blut kam immer gut. Erst wenn er Blut sieht, erkennt der Mann von der Straße, dass da was nicht optimal läuft. Ob von Demonstranten oder nicht war Mirko einerlei. Leser wollten keine Stellungsname, sondern Bilder. Bilder, die ihnen bestätigen, dass die Welt verrückt war. Verbale Botschaften, Text, war anstrengend. Aber auf ein Bild zeigen und dazu sagen 'schlimm' brachten die Leser dieser Blätter intellektuell gerade noch auf die Reihe.
Er stellte sich abseits der Stelle, wo sich die protestierende Menge vor einem übermannshohen Zaun staute. Wäre er auf eine seriöse Story aus gewesen, hätte er diesen Zaun abgeknipst. Im Text hätte er sich ehrlich darüber echauffiert, wie schlecht es um den Zusammenhalt in der Bevölkerung stand, wenn bereits Zäune notwendig waren, um unterschiedlich denkende Bürger voneinander fern zu halten. Das war journalistisch wohl ruhmreich, doch Mirko brauchte Geld.
Hinter ihm lauerte eine kleine Gruppe von verschwitzten Radfahrern, die nicht verstanden, warum ihre Lustfahrt blockiert wurde. Die sich ärgerten, weil die Speicher ihrer Sports Tracker am Abend unsaubere Daten liefern und das personal ranking versauen würden. Mirko bemitleidete solche Typen.
Typen, die nur über läppische Vergleiche am Lebenselixier leckten, waren Schwachköpfe, die den undurchschaubaren Algorithmen der Apps huldigten. Typen wie sie waren Leerschlucker. Enthirnte, die unfähig waren, sich ein eigenes Profil zu erarbeiten. Sie waren die Zombies des Neoliberalismus: bar von Kreativität und Eigenmotivation. 'Stehen sie auf, sie sind zu lange gesessen'. Apps waren ihre Religion und Appmeldungen das Wort Gottes.
Mirko hielt jede Wette, dass die übergewichtigen Nerds, die das programmieren, sich einen ablachten. Die Vorstellung, dass es Schwachsinnige gibt, die taten, was das Programm sagte, war zu absurd. Und wenn die Nerds sich wieder gefangen hatten, würden sie sich die Tränen vom Gesicht wischen, einen Kaffee ziehen und die nächste Packung Chips aufreißen. Schließlich musste bis Ende Monat die Sex-Optimierungs-App noch auf den Markt geworfen werden.
Die besondere Tragik dieser Sich-mit-anderen-Vergleicher war, dass sie in eine perfide Falle tappten. Neuronale Zusammenbrüche waren unumgänglich, weil beim Vergleichen immer heraus kommt, dass irgendwer, irgendwo bessere Werte ausweisen kann. Und da nur die Nummer EINS zählt, produzieren Vergleichsplattformen nur Verlierer. Mirko verdächtigte den Dachverband der Psychologen, die Nerds zum Programmieren von Apps angestiftet zu haben. Vielleicht haben sie ihnen das sogar während der Sitzungen in der Praxis eingeredet. Mit ein bisschen Posthypnose wäre so was ein Klacks. Mirko dachte oft darüber nach, wer die größere Schuld am absehbaren Verfall der Gesellschaft trug: die Demagogen oder die Vergleicher.
Er beobachtete, wie sich der schreiende Zug der Gegendemonstranten näherte. Einige Schnappschüsse konnten nicht schaden. Mit etwas Glück gelang ein schöner Vorher-Nachher-Vergleich. Ihm fiel eine Gruppe auf, die sich um einen hochgewachsenen Mann mit zur Schau getragenem Selbstbewusstsein scharrte. Mirko schätzte ihn als einen der Typen ein, welche eine Scheinfassade von Intellektualität und Unnahbarkeit pflegten und hegten. Allein sein stilvoll geschlungener Schal war dafür Beweis genug. Geschlungene Schals hatten in pseudo-intellektuellen Kreisen Tamagotchi-Status. Scheinintellektuelle wurden nervös und fahrig, wenn der Schal nicht jede viertel Stunde kontrolliert und nachgebessert werden konnte. Sein Blick war sinnierend in die Unendlichkeit gerichtet, wie bei allen Intellektuellen, die nicht wissen, was sie sagen könnten – Mirko fragte sich, ob es ein Nachschlagewerk für Scheinintellektuelle gab, wo dieser Blick beschrieben und eine Übungsanleitung in drei Grafiken festgehalten war. Neben ihm stand eine Frau, klein aber gut proportioniert. Er schoss ein paar Fotos von ihr. Sie bemerkte ihn und streckte die Zunge heraus. Er winkte und konzentrierte sich auf das weitere Geschehen am Zaun. Tatsächlich rückte Polizei an. Und da Sonntag war und sie nicht zu Hause grillieren konnten, würden sie sauer sein. Die Schlagstöcke würden locker sitzen. Schon wegen der Bewegung: Bewegung tut gut, Bewegung baut Stress ab.
"Bei uns drüben bist du näher dran."
Mirko blickte sich um und sah die Kleine von drüben. Sie hatte die Hände streitlustig in die Jeanstaschen geschoben.
"Wenn du schon Fotos von mir schießt, kannst du auch gleich herüber kommen. Oder bist du nur ein perverser Stalker?"
"Ich bin Journalist", sagte er und drehte sich ab. Er hatte keine Lust, sich mit einer verzogenen Göre, die wahrscheinlich auf 'sich-gegen-das-Elternhaus-wehren' machte, zu unterhalten. Später vielleicht, wenn die Story fertig und verschiedenen Kunden angeboten war. Unleidlich sah sie wirklich nicht aus.
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