»Aber nicht bei diesem Kind!«
»Ach? Warum?« Andreas Amendt trat streitlustig zwischen Henthen und Katja Meyer.
»Sie natürlich. Hätte ich mir ja denken können.« Henthen packte Andreas Amendt am Kragen, drückte ihn gegen die Wand und holte zum Schlag aus. Doch er kam nicht dazu. Lutz hielt seinen Arm fest. Er zog Henthen herum und hob ihn am Kragen hoch.
»Sind Sie Doktor Markus Henthen?«
Henthen nickte, soweit ihm das möglich war.
»Hab Ihr Buch gelesen! ›Gute Gene‹!«, erklärte Lutz freundlich. Er stellte den Arzt sanft auf seine Füße. »Hab ein Problem damit!«
Henthen schluckte und ordnete seinen Kittel.
Lutz fuhr höflich fort: »Haben Sie eigentlich bedacht, dass unser Ins-Dasein-Geworfen-Sein gerade in unserer Unvollkommenheit die Essenz unserer Existenz ausmacht?«
Katharina spürte, wie ihr jemand etwas Hartes, Eckiges aus Plastik in die Hand drückte. Hans flüsterte ihr ins Ohr: »Vielleicht willst du dich in seinem Büro ein wenig umsehen. – Keine Sorge, Lutz hält ihn so lange auf. Stunden, wenn es sein muss.«
Katharina blickte auf ihre Hand. Hans hatte einen Fächer von Sicherheitskarten hineingeschoben, die er Henthen in dem Aufruhr aus der Tasche gezogen haben musste.
Sie zupfte Katja Meyer und Andreas Amendt an den Ärmeln, zeigte ihnen unauffällig die Karten und bedeutete ihnen stumm, auf sie zu warten. Dann ging sie mit schnellen Schritten zum Ausgang der Säuglingsstation und hastete die Treppe hinunter.
***
Institut für Reproduktionsmedizin
Leitung: Prof. Dr. med. Markus Henthen
stand an der großen Stahltür. Katharina zog sie vorsichtig auf.
Sie hatte zu früh gehofft, ihren Weg ungestört zu finden. Vom eigentlichen Institut trennten sie noch eine verschlossene Glastür und eine Pförtnerloge, in der eine Schwester saß und sie mit verschränkten Armen musterte: »Sie wünschen?«
Wozu war sie Halbasiatin? Katharina verneigt sich unterwürfig. »Ich Doktor Fin-Ling Lang von Beijing University«, radebrechte sie mit ihrer höchsten Fistelstimme. »Ich verabredet mit Professor Henthen. Er sagen, ich warten vor Dienstzimmer.«
Die Schwester musterte sie von oben bis unten. Schließlich drückte sie den Türöffner. »Den Gang runter, fünfte Tür. Stühle gibt’s keine.«
Katharina verneigte sich tief. »Großen Dank Ihnen für Freundlichkeit.« Dann schlüpfte sie durch die Tür.
Vor dem Zimmer von Henthen sah sie sich vorsichtig um. Die Schwester konnte sie von ihrem Platz aus nicht sehen. Sie probierte verschiedene Karten vor dem Sensor an der Tür, bis das kleine Lämpchen von Gelb auf Grün wechselte und der Türöffner summte.
Bis auf einen Schreibtisch mit einem modernen Computer, einem Büro- und zwei Besucherstühlen und einem Regal war das Zimmer leer. Im Regal standen die Bücher von Henthen: »Gute Gene« und ein anderes, dessen zwanzig Fremdworte im Titel Katharina allein schon beim Anblick Kopfschmerzen bereiteten.
An der Wand hingen zahlreiche Fotos: Henthen mit dem Universitätspräsidenten, mit der Oberbürgermeisterin, mit dem Minister für Kunst und Wissenschaft, mit zahllosen glücklichen Müttern und kleinen Kindern sowie ein großes Bild, dass Henthen im Handschlag mit einer älteren Frau zeigte, die Katharina nicht erkannte.
Sie setzte sich an den Computer. Er war durch eine Chipkarte geschützt. Kein Problem, Katharina fand die Karte an dem Fächer in ihrer Hand. Doch der Bildschirm leuchtete nur auf, um ihr ein Passwort abzuverlangen. Verdammt! Sie sah sich um. Ihr Blick fiel wieder auf den orangefarbenen Buchumschlag. Auf gut Glück tippte sie »gutegene«.
Eine Sekunde später bestätigte ihr das System, dass sie offiziell als Dr. Markus Henthen eingeloggt war.
Der Bildschirm bot ihr nicht viele Möglichkeiten, also klickte sie auf das Icon mit der Aufschrift »Patients Medbase«. Eine Suchmaske erschien. Kein Passwort. Wie leichtsinnig. Katharina gab »Wahrig, Melanie« ein. Der Bildschirm füllte sich. Diverse Einträge, alle in Medizinchinesisch. Sie gab den Befehl, alles auszudrucken. Der Laserdrucker auf dem Schreibtisch spuckte leise Seite um Seite aus.
Sie wiederholte die Prozedur mit »Taboch, Alexandra«. Der Drucker lief weiter. Wenigstens war genug Papier drin.
Nach endlosen Minuten des Wartens lief endlich das letzte Blatt aus dem Drucker. Katharina schaltete den Computer wieder auf Stand-by. Sorgfältig wischte sie die Karten ab und ließ sie unter dem Stuhl auf den Boden fallen. Sollte Henthen doch glauben, er habe sie dort verloren. Dann nahm sie die Ausdrucke und schlich zur Tür, die sie leise öffnete. In der Ferne erklang der Türsummer. »So was Blödes, ich muss meine Karten hier irgendwo verloren haben«, hörte sie die Stimme von Henthen.
Katharina schlich in eine Toilette, die schräg gegenüber dem Büro lag. Dann bogen Henthen und die Schwester auch schon um die Ecke und blieben vor Henthens Bürotür stehen.
»Scheiße! Die Dinger liegen vermutlich da drin.«
Katharina traute sich kaum zu atmen. Sie hörte, wie Henthen von einem Handy mit dem Sicherheitsdienst telefonierte.
»Da war übrigens eine Chinesin aus Beijing.« Das war die Schwester.
»Jaja«, antwortete Henthen abwesend. Endlich entfernten sich die Schritte. »Ich brauche einen Kaffee. Und schauen Sie mal, ob Sie in der Bibliothek irgendwas von einem gewissen Peter Singer finden. – Vermutlich bei den Esoterikern oder so.«
Katharina sah, wie beide in einen Raum ganz am anderen Ende des Gangs einbogen. Das war ihre Chance. Sie lief zur Glastür, öffnete sie, schlüpfte durch die große Stahltür und spurtete die Treppe hoch zur Säuglingsstation.
***
Sie fand Andreas Amendt, Katja Meyer, Hans, Lutz und Svenja Taboch um ein Bettchen versammelt.
»Ist sie nicht schön?«, hörte sie Andreas Amendt sagen.
»Ja, das ist sie«, antwortete Svenja Taboch, die Andreas Amendt unverhohlen anstrahlte. Katharina spürte einen Stich in ihrer Brust. Nein, sie war nicht eifersüchtig!
***
Jeannie hielt immer noch die Stellung, inzwischen die Schlacht mit der zweiten Schachtel Kleenex schlagend. Andreas Amendt befahl ihr, endlich nach Hause zu gehen. Das sei eine ärztliche Anweisung. Dankbar packte Jeannie ihre Apotheke ein, wickelte sich in diverse Schals und verschwand. Ihre letzten Nieser verklangen leise im Flur.
Andreas Amendt setzte sich hinter seinen Schreibtisch und begann die Akten durchzublättern, die Katharina aus Henthens Büro mitgenommen hatte. Katharina kochte inzwischen Kaffee. Hans und Lutz hatten an beiden Türen des Büros Stellung bezogen.
»Eigentlich ganz normale Arztberichte. Die üblichen gynäkologischen Untersuchungen. Aber hier …« Andreas Amendt deutete auf ein Blatt, dass für Katharinas Augen nur Zahlen enthielt. »Melanie Wahrig hatte vor zehn Monaten eine Fehlgeburt. Das Kind hatte einen schweren genetischen Defekt. Henthen hat sie zu einer Diagnose und zur Beratung zu Fischer-Lause geschickt.«
»Und?«
»Von Fischer-Lauses Bericht steht hier nicht viel. Nur dass sie ein Genprofil von Melanie Wahrig gemacht hat. Ohne Befund. Der damalige Vater scheint wohl das Problem gewesen zu sein.«
»Steht da, wer das war?«
»Leider nein. Hat sich wohl nicht untersuchen lassen. Dann vor ein paar Monaten eine normale Routineuntersuchung. Aber … das ist ja interessant. Empfohlen durch Alexandra Taboch. Die beiden kannten sich.«
»Sie haben für die gleiche Werbeagentur gearbeitet – stop!«, ergänzte Katharina.
»Was?«
»So heißt die Agentur: stop! Mit Ausrufezeichen. – Was steht denn da über Alexandra Taboch?«
»Normale frauenärztliche Betreuung, normale Schwangerschaftsuntersuchungen. Die Schwangerschaft verlief sehr zufriedenstellend. Das zeigen auch die Ultraschallaufnahmen, soweit ich das sehen kann. Dann, hier: vor etwa sechs Wochen Abbruch der wöchentlichen Untersuchungen.«
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