Ein Anderer beobachtet und schließt: Was an beliebiger Stelle heranwächst, kann ich auch in der Nachbarschaft meines Lagerplatzes wachsen lassen. Er streut Körner und sieht Getreide wachsen. Nicht eine Not, sondern Interesse und Neugier hat den Sammler geleitet. Als namenloser Held wird er zum Begründer des Ackerbaues. Sein Freund ist Jäger. Er trägt eine von der Herde zurückgelassene junge Ziege zum Lagerplatz und beobachtet wie diese sich an ihn gewöhnt und größer werdend nicht mehr von seiner Seite weichen will. Er beobachtet, wie ein junges Tier sich an den Menschen gewöhnt und schließlich nicht mehr weg rennt. Er hat eine Ziege domestiziert, nicht weil die Not ihn treibt, sondern weil sein Mitleid und eine dadurch entfachte Nachdenklichkeit sein Interesse weckt. Von Gefühlen ausgehende Nachdenklichkeit macht aus dem Jäger einen Hirten und Viehzüchter und die Neugier macht aus einem Sammler einen Pflanzer und Ackerbauer.
Nicht die „Verknappung wild wachsender Nahrung“, die „zunehmende Verbreitung domestizierter Wildpflanzen“, die „Entwicklung von Techniken zum Ernten, zum Verarbeiten und Lagern“ oder die „Wechselbeziehung zwischen dem Anstieg der Bevölkerungsdichte und der aufkommenden Landwirtschaft“ haben die Domestikation von Pflanzen und Tieren bewirkt, wie Jared Diamond32 beschreibt. Möglich gemacht wird die Domestikation von Pflanzen und Tieren allein durch die Intelligenz eines modernen Menschen, eines fühlenden und jetzt nachdenklich gewordenen Individuums. Gedankliche Intelligenz zieht aus Beobachtungen weitreichende Folgerungen. Die durch Ackerbau und Viehzucht entstehenden Folgen von Sesshaftigkeit, von zunehmender Bevölkerungsdichte, von beruflicher Spezialisierung, von Formen der Organisation und Gründung von Städten, von Besitz und von Hierarchie konnten jene großartigen Jäger und Sammler nicht vorhersehen. Sie verwirklichten nur eine Idee: Sie waren die geistreichen Erfinder, die aus einer Beobachtung richtige Schlüsse zogen. Für die Folgen ihrer Entdeckung sind Andere verantwortlich. Diese Erfahrungen sollten sich in der menschlichen Gesellschaft noch oft wiederholen.
Man kann die „neolithische Wende“ als einen ersten Höhepunkt der schöpferischen Aktivität des Sapiens-Menschen bezeichnen. Begonnen haben dessen Erfindungen aber schon viel früher. Die „zivilisatorische Wende“ hatte eine lange Vorlaufzeit. Dies schreibt auch der australische Archäologe Gordon Childe, der den Ausdruck „neolithische Revolution“ prägte: „Das Vorspiel zu der neolithischen Wende muss sehr viel länger gedauert haben, und es ist auch weniger leicht zu entscheiden, was man genau als ihren Höhepunkt bezeichnen sollte“33. Die neolithische Wende begann vor 50 000 bis 100 000 Jahren und ist auch kein auf Vorderasien lokalisiertes Phänomen. Sie findet weltweit statt. Erste Groß-siedlungen entstehen nicht nur in Ägypten oder im Vorderen Orient. Zu gleicher Zeit entstehen Großsiedlungen und erste Reiche an unterschiedlichen Regionen in China oder im Tal des Ganges in Indien.
Mit der in der neolithischen Wende offenbar werdenden technologischen Mannigfaltigkeit, mit Entwicklung von Tierzucht und Landwirtschaft, mit der Herstellung von Schmuck und Bildern zeigt sich eine neue Intelligenz des Homo sapiens: Er benutzt sein Umfeld, gestaltet dieses und verändert. Es ist der Beginn schöpferischer Intelligenz. Wer gestaltet und verändert wird zur Sesshaftigkeit gezwungen weil Landwirtschaft und Geräte oder Vieh binden. Wer ortsgebunden ist, wird aber bald die Weite als neues Ziel entdecken: Fremdheit ist für den Hominiden zwar eine angstbelastete Bedrohung. Für den Homo sapiens aber wird Fremdheit zur gesuchten Heraus-forderung. Er ist neugierig und will wissen, was sich jenseits der eigenen Behausung verbirgt. Während die Hominiden sich an der Küste vortastend, 11/2 bis 2 Millionen Jahre brauchten, um fern von Afrika aufzutauchen, erschließt sich der Homo sapiens die Erde in nur 50 000 Jahren und überwindet schwierigste Klimazonen. In „Die Wege der Menschheit“30 beschreibt Spencer Wells mit Hilfe der genetischen Uhr die Reisewege des Homo sapiens: Vor etwa 80 000 bis 60 000 Jahren verlässt er Afrika, erreicht auf einer Südroute schon vor etwa 40 000 Jahren Australien, kommt vor 35 000 Jahren nach Zentralasien, von dort nach China und Europa und betritt vor etwa 20 000 Jahren über Sibirien und die Beringstraße den amerikanischen Kontinent. In Patagonien, an der Südspitze Südamerikas gefundene archäologische Funde zum Homo sapiens sind etwa 10 000 Jahre alt.
Unbezweifelbar haben geographische- oder klimatische Hindernisse und gelegentlich auch aufgekommener Bevölkerungs-druck die „Wege der Menschheit“ mitbestimmt. „Wir wissen“, schreibt Wells30 „dass der Homo erectus sich in Ostasien ungefähr eine Million Jahre lang nicht nennenswert veränderte, vielleicht weil der Selektionsdruck im wesentlichen gleich blieb... und Kontinuität begünstigt hat“. Einen mentalen Unterschied zwischen dem Homo erectus und dem Homo sapiens erwähnt er nicht. Genau dieser auf genetischer Basis entstandene Unterschied aber macht vor 150 000 oder 200 000 Jahren aus einem gefühlsorientierten und gegenwartsbezogenen Gruppenwesen des Homo erectus einen von Verstand und Geist geleiteten und der Zukunft gegenüber offenen Homo sapiens. Wie alle genetischen Neuerungen vollzieht sich diese mentale Verwandlung ohne Mitwirkung von klimatischen- oder geographischen Schranken. Diese mentale Verwandlung hat den modernen Menschen „biologisch dazu angepasst sich anzupassen“. Nicht der Selektionsdruck ist für die Erectus-Hominiden ein anderer als für die Sapiens-Menschen. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden ist ihre unterschiedliche Mentalität: Wo es ungemütlich wird weichen die Hominiden mit ihren Gruppen aus. Ihre Bedürfnisse orientieren sich ausschließlich an den Gegebenheiten, welche Natur und Umfeld bieten. Der Homo sapiens aber weicht nicht. Er verändert. Er besorgt und erschafft sich Hilfsmittel, mit welchen er auch höchsten Herausforderungen trotzen kann. Sein Interesse und gelegentlich auch der Druck des Hungers veranlasst ihn, entfernte Regionen auf zu suchen. Nicht ein Selektionsdruck hat sich in den letzten zwei Millionen Jahren verändert, sondern die mentalen Voraussetzungen, einem Selektionsdruck Stand zu halten, haben sich verbessert. Allein die mentalen Veränderungen des Homo sapiens können erklären, warum der moderne Mensch in gerade mal 50 000 Jahren jeden entfernten Winkel unserer Erde bevölkert, während der Homo erectus sich nur in jenen Zonen festsetzt, wo sein Überleben gesichert ist. Dass der Homo sapiens diese Besiedlung in, evolutionär betrachtet, Minimalzeit schafft, dafür sind die Gestaltungs-fähigkeit, die Offenheit für Zukünftiges und Unbekanntes von wagemutigen Individualisten verantwortlich. Der Homo sapiens wird immer schon von seiner Neugier getrieben. Dies war früher so und ist es bis heute geblieben: Immer wird das Neue von wenigen geistigen Giganten erschaffen. Wie Ackerbau und Viehzucht durch eine einmalige Idee oder Beobachtung entstanden sind, habe ich anzudeuten versucht. Dass danach beide zu einer Aufgabe von Vielen werden, ist eine gängige Folge von allen wichtigen Erfindungen. Für die Besiedlung der Erde gelten gleichartige Bedingungen: Niemand wird unter den Bedingungen der Frühzeit auf Grund eines Bevölkerungs-druckes gezwungen, die asiatische Steppe zu verlassen und sich in den Westen nach Europa oder ostwärts in den winterlichen Norden Sibiriens und nach Alaska zu wagen. Trotzdem werden diese Abenteuer von Wenigen unter-nommen. Sie werden von der Neugier auf bisher Unbekanntes angezogen. Sie tun das was später Kolumbus tut: Auch ihn trieb nicht die Not aufs Meer sondern seine Neugier auf bisher Unbekanntes. Dass seine Erkundungs-reise dann zu einem Seeweg für viele wird, ist eine bekannte Folge von Entdeckungen und Erfindungen. Auch die Polarforscher Amundsen und Scott oder der Berg-steiger Hillary mussten nicht den Südpol oder die Spitze des Mount Everest erreichen. Sie mussten nicht, sie wollten. Sie wollten ihre Neugier und ihren Forschergeist befriedigen. Dass Mond oder Mars zu einem modernen Fernziel für Wenige geworden sind, ist ein aktuelles Beispiel dafür, was für den Homo sapiens schon immer gilt: Einzelne wenige geistige Giganten oder Individuen lockt das Unbekannte und Unerforschte. Sie bereiten das Terrain, auf welchem Viele folgen. Aus einem erreichten Ziel von Wenigen wird eine Sehnsucht für Viele. Der Homo sapiens erschließt sich den Erdball nicht weil er dazu gezwungen wurde, sondern weil er neugierig war. Er hatte das Neugier-Gen in sich, das Kolumbus nach Amerika, Amundsen und Scott an den Südpol und Hillary mit seinem Sherpa auf den Mount Everest führte.
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