Zwei Millionen Jahre Evolution der Hominiden oder Steinzeitmenschen werden von der Anthropologie an Hand von gefundenen Steinwerkzeugen in ein Altpaläolithicum (2 500 000 – 200 000 Jahre), in ein Mittelpaläolithicum (200 000 – 40 000 Jahre) und ein Jungpaläolithicum (40 000 – 10 000 Jahre) eingeteilt28. Im Alt- und Mittelpaläolithicum verwenden die Hominiden Faustkeulen, die vor 1,7 Millionen Jahren erstmals auftauchen und dann über 1,5 Millionen Jahre allenfalls marginale Veränderungen zeigen. In 180 000 Jahre alten archäologischen Fundstätten in Ostafrika werden noch immer die früheren Faustkeulen gefunden. Sie sind scharfkantig, stabil und griffig. Wurden sie nur gefunden und aufgelesen oder wurden sie produziert oder zugerichtet? Eine planerische- oder kreative Fähigkeit kann ich an diesen Faustkeulen nicht erkennen und finde eine Bestätigung beim Entdecker der Evolution: Charles Darwin schreibt: „Mir scheint viel Wahres (darin) zu liegen, dass, als die Urmenschen zuerst Feuersteine zu irgend welchen Zwecken benutzten, sie diese zufällig zerschlagen und dann die scharfen Bruchstücke benutzt haben werden... . Indessen dürfte der letzte Fortschritt sehr lange Zeit bedurft haben... , welche verging, ehe ein Mensch... begann, seine Werkzeuge zu schleifen und zu polieren“7.
Ein von Gefühlen bestimmtes „primäres Bewusstsein“ ist nicht schöpferisch, doch half es den Hominiden zu überleben. Ein von Gefühlen bestimmtes „primäres Bewusstsein“ sicherte ihr Überleben und bedeutet für uns moderne Menschen noch immer so etwas wie Heimat, Familie, Freundschaft. Auch ohne schöpferische Kreativität konnten sie sich als Gruppe über die Erde ausbreiten. Ihre Bedürfnislosigkeit bot die Chance zu Überleben. Was dieses von Hominiden stammende frühe mentale Erbe für uns heute bedeutet, lässt sich in etwa so zusammen-fassen:
° Zusammenhalt braucht persönliche Beziehung,
gestützt auf Kommunikation in Form körperlicher
Zuwendung, Mimik und Gestik. Zusammenhalt braucht
Empathie und Gefühle, braucht emotionale Intentionen und
emotionale Intelligenz.
° Zugehörigkeit zu einer Gruppe, der man vertraut, ist
ein von den Hominiden überkommenes
menschliches Bedürfnis.
° Menschliche Bedürfnisse sind steuerbar durch das,
was das Umfeld bieten kann. Bedürfnisse können
gelenkt werden und sich anpassen.
° Gleichberechtigte Teilhabe des Menschen als
moderne Forderung ist ein von Hominiden
erarbeitetes Erbe.
° In der Natur, mit ihr und von ihr zu leben, dieses
menschliche Bedürfnis ist ein uns von Hominiden
hinterlassenes Erbe.
Über zwei Millionen Jahre entwickeln die Hominiden eine auf personalen Austausch und emotionaler Intelligenz gegründete Gruppenidentität und begnügen sich mit dem was das Umfeld beim Sammeln und Jagen hergibt. Sie überleben, verlassen Afrika entlang den Küsten und kommen schließlich nach Europa und in Asien bis nach China. Zu ergründen wie sie lebten oder wie sie sich fühlten aber bleibt ein gedankliches Experiment, durch welches sich die beschriebene emotionale Intelligenz oder ein primäres Bewusstsein der Hominiden erschließen lässt.
Von der Verhaltensforschung an nichtmenschlichen Primaten erfahren wir, was Hominiden übernehmen konnten und von Ethnologen lernen wir, was sie an noch existierende indigene Gruppen weitergaben.
Der Homo sapiens denkt und plant.
Beim Homo sapiens, dem bisher letzten Glied in der Reihe der Hominiden, ist die Situation eine ganz andere. Er taucht, mit der genetischen Uhr am mitochondrialen Genom (mtDNA) oder dem Y-Chromosom (Y-DNA) ermittelt, vor 150 bis 200 Tausend Jahren in Afrika auf30, 31. In Äthiopien wird der Herto-Schädel, das 160 000 Jahre alte und älteste Fossil eines Schädels des modernen Menschen entdeckt. Weitere 100 Tausend Jahre werden vergehen, bis eine neue mentale Funktion des Homo sapiens erkennbar wird. Neues Verhalten taucht dann auf, wenn der neue Mensch oder Homo sapiens die Mehrheit in der Gesellschaft stellen wird. „Wenn eine Mutante auf Grund eines Vorteils nur ein Prozent mehr Nachkommen hervorbringt als ihre Konkurrenten, steigt ihr Anteil in der Population in knapp 400 Generationen von 0,1% auf 99,9% an“, so lese ich bei Steven Pinker31. Wie bestimmend die Homo-sapiens Mutanten für deren Fortpflanzungspotenz waren, wissen wir nicht. Dass viele Generationen notwendig sind, eine neue Mutante zum Besitz einer Bevölkerungsmehrheit zu machen ist offensichtlich. So erklärt sich die Latenz zwischen der Entdeckung einer neuen Art mit Hilfe der genetischen Uhr und der Entwicklung eines neuen Verhaltens. Wurden im Alt- oder Mittelpaläolithicum noch immer nur leicht veränderte Steingeräte bis zum Faustkeil verwendet, so kommt es zum Ende der mittleren Steinzeit (200 000 bis 40 000 Jahre), v.a. aber in der Jungsteinzeit (40 000 bis 10 000 Jahre) zu einer Zunahme handwerklicher Mannig-faltigkeit. Mit deren Aufkommen offenbart sich eine die emotionale Intelligenz ergänzende „kognitive oder gedankliche Intelligenz“, die Neues schafft und schöpferisch aktiv ist.
Zum Ende der mittleren Steinzeit, v.a. aber in der Jungsteinzeit erhalten die Steingeräte schärfere Kanten nach Art der Levallois-Technik. Neue Materialien wie Knochen, Elfenbein oder Horn von Mammuts, Bisons oder Nashörnern werden verwendet. Knochen- oder Elfenbein-spitzen auf Holz oder Bambusstöcke fixiert, werden zu Wurfspießen. Handwerkliche Produkte entstehen. Zahl und Vielfalt archäologischer Funde nimmt zu in der Jungsteinzeit. Schmuck aus Knochen, aus Zähnen, Muscheln oder Schnecken, dann aus Obsidian wird gefunden. In Höhlen wie Altamira oder Lascaux werden Silhouetten von Mammuts oder Rotwild an die Wände gemalt. In Dolni Vestice werden aus der Jungsteinzeit stammende Hüttenreste entdeckt. Siedlungen sind Ausdruck einer beginnenden Sesshaftigkeit. Keramik und Ton kommen zum Einsatz und vor 6500 Jahren wird erstmals Kupfer verwendet. Ein unterschiedlicher Gebrauch von Materialien, die Konstruktion von Werkzeugen, Abbildungen von Tieren an Höhlenwänden und Siedlungen führen zu einem ersten, handwerklich-technologisch ausgerichteten Höhepunkt der Sapiens-gesellschaft: Die Archäologie spricht von einer „neolithischen Wende“ oder einer „zivilisatorischen Revolution“ der Jahre 10 000 bis 6000 v. Chr. In diesen 4 000 Jahren, so lese ich in Hansjürgen Müller-Becks „Steinzeit“28 sei der Mensch „erstmals durch Kultivierung von Pflanzen und Domestikation von Tieren selbst zum Neugestalter der von ihm benutzten Ökosysteme“ geworden. Der „Ertrag der Scholle“ und der „Reichtum an Vieh“ seien die Grundlage menschlicher Kultur“.
„Ertrag der Scholle“ oder „Reichtum an Vieh“ sind nicht die Grundlage, sondern Ergebnisse menschlicher Kultur. Deren „Grundlage“ ist der neue- und schöpferische Geist des Menschen. Mit der zivilisatorischen Wende der menschlichen Frühgeschichte wird deutlich, wie in nur kurzer Zeit ein Wandel entsteht. Die Neues schaffenden Heroen wirken noch im vorgeschichtlichen Dunkel. Sie bleiben unbekannt oder verbergen sich hinter mythischen Figuren. Was diese namenlosen Helden hervorbringen lässt sich nur in der Rückschau erkennen: Schon vor mehreren 10 000 Jahren malt ein namenloser Künstler in einer Höhle sein erstes Bild. Er malt nicht nur ein Bild. Er wird zum Begründer von Kunst und niemand wird jemals von ihm erfahren. Ein Anderer bemalt die geritzten Umrisse der Tiere mit Farben gepresster Pflanzen oder Früchten und schafft so Bilder, die uns bis heute erhalten bleiben. Ohne dass ein gemeinschaftlicher Nutzen sichtbar wird, führen die Beobachtungsgabe eines Beerensammlers und die Freude über ein gejagtes Tier zu Bildern in Altamira oder Lascaux in Europa und an vielen anderen Orten in Afrika, Asien und Australien. Die Bilder werden dort gefunden, wo historische Forschung betrieben wird. Ein nicht von Not-wendigkeit getriebener, sondern von Lust oder Langeweile gedrängter Künstler hat erste Bilder, hat die Kunst erschaffen.
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