Währenddessen hatte der Professor die Messung mittels eines Zählrohres – einer Apparatur, die den Zerfall der Moleküle detektierte – vorgenommen. Auf dem Bildschirm eines Notebooks erschien die ermittelte Jahreszahl: 300 – 450 Jahre.
Raimunds Blick glitt an den Studenten vorbei und zu Andreas. Auch dessen Augenbrauen waren hinter dem Brillengestell hochgezogen. Stumm hielten sie Zwiesprache und wurden sich schnell einig.
„Was zum …“
„Hier stimmt etwas nicht.“ Die gleichen Worte wie gestern, diesmal aber von Raimund, der verwundert auf das Notebook blickte. Doch er hatte so leise gemurmelt, dass die Studenten ihn nicht verstanden hatten.
„Na, das ist ja jetzt nicht gerade alt. Da sind wir irgendwo bei fünfzehnhundertund.“ Der eben noch so respektlose Student nutzte nun die Gelegenheit zu zeigen, dass er nicht schlechter gelegen hatte als seine Kommilitonen. In der Tat waren alle Vermutungen falsch gewesen.
Raimund, der bisher wie festgewurzelt dagesessen hatte, erwachte wieder zum Leben. „Das kann nicht sein. Da muss ein Fehler im Programm sein. Die Zählung war genau, aber vielleicht stimmt die Umrechnung nicht. Andreas, kannst du es einmal per Hand durchgehen?“
„Könnte ich“, brummte dieser beinahe abweisend.
„Ich starte die Maschinen neu und lass die Probe noch einmal messen“, fuhr der Professor gehetzt weiter.
Andreas nickte. Er fühlte die fiebrige Betriebsamkeit, mit der Raimund ans Werk ging. Zusammen mit dem australischen Post-Doc sah er zu, wie der Professor alle Geräte, die in seiner Reichweite waren, aus- und neu einschaltete, wie er die Probe noch einmal durchmaß und betroffen wieder auf das gleiche Ergebnis schaute. 300 – 450 Jahre alt.
Jerara überlegte kurz. Mit der Radiokarbonmethode war er in den Grundzügen natürlich vertraut, hatte sie aber noch nie selbst angewendet, geschweige denn alle Details im Kopf. Aber er wusste, dass die Messergebnisse bei ausreichender Probenmenge sehr genau waren und dass …
„Die Messung ist nutzlos“, rutschte es ihm heraus.
„Ja, natürlich!“, stöhnte Alphen auf. „300 – 450 Jahre alt! Das bedeutet gar nichts. Bei dieser Anlage beginnt der Messbereich erst bei einem Alter von 300 Jahren. Selbst wenn ich mir jetzt einen Finger abschneiden und ihn scannen würde, käme ein Alter von 300 Jahren dabei heraus. Verdammt, ich hätte gestern schon die Polizei benachrichtigen sollen! Oder zumindest den Dekan.“
Das Schuldgefühl kam wieder auf, weil er nicht auf sein Bauchgefühl gehört hatte.
Andreas legte ihm eine Hand auf die Schulter: „So schnell schießen die Preußen nicht! Ich denke schon, dass der Knochen alt ist. Immerhin wird sein Alter auf 300 BIS 450 Jahre angezeigt. Das heißt, dass er älter ist als jeder hier von uns. Wahrscheinlich aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, irgendwo zwischen 1550 und 1650.“
„Aber auch das kann nicht sein“, warf Jerara ein, „denn der Sarg war zu diesem Zeitpunkt schon seit 200 Jahren versiegelt gewesen und wir haben ihn gestern unberührt und verschlossen vorgefunden. Wie soll ein einzelner Knochen in ein seit 200 Jahren verschlossenes Grabmal gekommen sein?“
Alphen stand auf und klatschte in die Hände: „Gar nicht. Das kann nicht. Die Messung war schlecht. Weil es viel zu wenig Masse war, die wir analysiert haben.“
„Was hast du vor?“, fragte Andreas vorsichtig. Er ahnte Gefahr.
„Na, was wohl? Ich hole den Knochen und lasse ihn in Gänze durch die Radiokarbon-Messung laufen.“
Jerara stockte der Atmen. Nach Säurebad und Erhitzung würde dann nichts mehr übrigbleiben, um es noch auf anderem Wege zu analysieren. Sie hatten noch nicht bestimmt, ob es sich um einen männlichen oder weiblichen Knochen handelte, wie alt der Mensch geworden war oder was die Kratzmale auf der Oberfläche zu bedeuten hatten. Sie würden sich jeder Möglichkeit berauben zu erfahren oder auch nur zu erraten, was geschehen war.
„Ray.“ Andreas Stimme war leise. Sie war sonst auch sehr sanft, aber jetzt war sie fast hypnotisch. „Ray, lass das.“
Raimund hielt inne.
„Du weißt, dass du das nicht machen kannst. Du würdest es dir selbst nie verzeihen.“ Er zögerte, bevor er weitersprach. „Es ging dir gestern nicht gut und du bist völlig übernächtigt. Vielleicht ist dir irgendwo ein Fehler unterlaufen?“
„Ich …!“ Aber dann brach der Professor ab. „Du hast recht.“
„Okay ihr.“ Jerara trat vor die Studenten und wedelte mit den Armen, als wollte er Mücken verscheuchen. „Das war es. Show vorbei. Genug praktische Zeit für heute.“
Mit seiner Leichtigkeit schaffte er es, die Studenten aus dem Labor und zurück in die Bibliothek zu treiben, ohne dass den jungen Leuten aufgefallen wäre, dass ihnen das Highlight des heutigen Vormittags entgangen war.
Als er die Türe wieder schloss und zu Andreas zurückging, sagte der Professor gerade: „Wir lassen den Knochen durch die üblichen Analysen laufen und ganz am Ende nehmen wir noch ein Stück und messen das Alter erneut.“
Korla atmete auf. Das war eine Entscheidung, die er voll und ganz mittragen konnte. Und jetzt spürte er auch, dass dieses besitzergreifende innere Beben langsam verebbte. Er hatte schon mit vielen anderen Wissenschaftlern zusammengearbeitet, bevor er zu Alphen stieß. Sie alle hatten das eine oder andere Mal diese manische Getriebenheit gezeigt, doch nur bei Raimund hatte es ihn entsetzt. Weil er ihn als Kopfmensch kannte, überlegt und rational. So ein getriebenes Verhalten machte Korla Sorge, da er sich zwei Dinge nicht eingestehen wollte: Eigentlich war es keine Sorge, sondern pure Angst, dass sein Freund und Kollege vor seinen Augen zu zerfallen schien. Und andererseits konnte er den Gedanken noch nicht an sich heranlassen, dass auch aus seiner eigenen Leidenschaft für die Vergangenheit irgendwann einmal wie bei allen anderen Wissenschaftlern seiner Zunft Besessenheit werden würde. Denn wer nicht völlig für die Jagd nach der historischen Wahrheit brannte, war falsch in ihrem Beruf, der nur Berufung sein konnte, wenn man sich vom Wunsch nach Ruhm und Reichtum vollkommen verabschiedet hatte. Dann hätte er lieber Wirtschaftswissenschaften als Geschichte oder Archäologie studieren sollen.
Ob ein junger Kerl wie Jerara bei ihm sein würde, der ihn von Dummheiten abhalten könnte, wenn er begann, die Forschung über die Vernunft zu stellen? Er hoffte es.
Jetzt aber konzentrierte sich Andreas erst einmal auf die bevorstehenden Aufgaben. Und die erste war, noch einmal an eine gute Tasse Kaffee heranzukommen, denn der Tag würde sehr lang werden. Unter den wachsamen Augen von Raimund, der wieder in seine übliche Rolle als stiller und nachdenklicher Beobachter gewechselt war, nahm sich Andreas den Knochen vor und erklärte bei jedem Schritt ihrem Post-Doc, was er tat.
Der Abend senkte sich schon über die Stadt, als Andreas sich streckte, die Arme über den Kopf reckte und die Schultern kreisen ließ. Die neuen Laboratorien im archäologischen Institut waren schon perfekt eingerichtet, mit den aktuellsten Instrumenten, hell gestaltet und mit ergonomischen Arbeitsplätzen. Und doch würde er sich immer am Ort einer Ausgrabung, mit Pinsel, Spaten und Pinzette bewaffnet, unter freiem Himmel und auch gerne den unerbittlichen Moskitos ausgesetzt viel wohler fühlen als einen Tag in einem Raum eingesperrt zu sein.
Raimund ging es nicht anders, obwohl er die eine oder andere Gelegenheit genutzt hatte, um sich Bewegung und Freiraum zu verschaffen. Während seine zwei Mitarbeiter Partikelproben des Knochens genommen hatten, war er ins Dekanat gelaufen, um seinen Vorgesetzten endlich über das unerklärliche Fundstück zu informieren. Dekan Oberwinter nahm das Gehörte erstaunlich gelassen auf, so dass Raimund gar kein schlechtes Gewissen mehr hatte, den Fund nicht sofort gemeldet zu haben. Warum er so ein dumpfes Gefühl dabei gehabt hatte, konnte er sich heute schon nicht mehr erklären.
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