Jerara war inzwischen ins Labor gekommen, mit einem Glas Wasser in der einen und zwei Kaffeetassen in der anderen Hand. Das Wasser stellte er auf die Fensterbank, um dann den einen Kaffee Andreas ungefragt in die Hand zu drücken und den anderen auf den Stammplatz von Alphen zu stellen.
„Wo ist der Professor“, fragte der Post-Doc.
„Er kommt.“
„Gestern …?“
Die Frage blieb unausgesprochen. Andreas zuckte mit den Achseln. Er wusste es nicht. Mit Raimund hatte er schon viele Grabstellen und Funde bearbeitet, aber niemals hatte er ihn in so einer Stimmung erlebt. Darauf konnte er sich keinen Reim machen, obwohl er wusste, dass der Professor eine Art sechsten Sinn besaß. Sein Bauchgefühl oder sein Instinkt halfen ihm oft genug bei der Lösung historischer Geheimnisse. Er war dadurch in der Lage, sich gedanklich in jede Zeit und in jede Situation zu versetzen, die ihm Hinweise auf den Sinn und Zweck eines Grabes oder einer Inschrift gaben. Als könnte er seinen Geist auf Zeitreise schicken und miterleben lassen, wie die Stätte geschaffen wurde. Wenn er dann aus seinen Gedanken wieder auftauchte, war er meist ein wenig durchgeistigt, aber oft euphorisch und voller Tatendrang. So niedergeschlagen hatte er seinen Freund noch nie erlebt.
Andreas nahm sein Smartphone zur Hand und checkte den E-Mail-Eingang. Er drehte das Gerät in einer Hand und überlegte, ob er Raimund anrufen sollte, als die Tür zum Labor aufschwang und der Professor mit einigen Studenten und Laborhelfern im Schlepptau eintrat. Seine Augen leuchteten, was ein gutes Zeichen war, aber die dunklen Ringe darunter konnten nicht verbergen, dass auch er zu wenig geschlafen hatte. Mit einem Nicken ging er zwischen Andreas und Jerara hindurch, schnurstracks auf den Kaffeepott zu und schüttete das Koffein gierig in sich hinein.
„Du bist mein Held“, meinte er anerkennend zu seinem Post-Doc und klopfte ihm leicht auf die Schulter, um sich dann an die Arbeit zu machen. Während sich die Studenten um den Labortisch des Professors scharten, ihm bei der weiteren Vorbereitung des Knochens zusahen und begierig aufsogen, was er dazu erklärte, stand Andreas in der zweiten Reihe – bei seiner Größe konnte er problemlos über die Studenten hinwegblicken – und beobachtete genauso aufmerksam den Professor. Dieser ging mit großer Genauigkeit und Erfahrenheit vor, als er das Knochenstück herausnahm, für das Säurebad vorbereitete, die Mischungsverhältnisse und den chemischen Vorgang dahinter erklärte, während die Laborhelfer die Flüssigkeit ansetzten. Andreas eigene Studienzeit war auch schon einige Jahre her und so fand er es ganz interessant, wieder einmal zuzuhören, wie der Professor von zerfallenden Molekülen erzählte, berichtete, dass die Messung auf 40 Jahre genau sein konnte, wenn genug Material zur Analyse bereitstand, und dass er kaum das notwendige 1 Kilo für eine solche Genauigkeit zur Verfügung hatte, denn dann wäre von dem Knochen nichts mehr übriggeblieben. Während das Knochenstück im Säurebad blubberte, bat der Professor Andreas, ihm den mathematischen Teil abzunehmen. Korla begann zu erklären, welche Daten man benötigte, um zu errechnen, aus welchem Jahr das Testobjekt stammte. Seine Kreideskizze an der Tafel war sechsfarbig.
Beinahe enttäuscht stellte Andreas fest, dass er hier und da ein stöhnendes Aufatmen hörte, als der Professor die spontane Mathematikvorlesung beendete mit dem Hinweis, dass es nun mit der praktischen Arbeit weiterginge. Dann aber verflog seine Enttäuschung und das altbekannte innere Beben setzte ein. Er schaute sich um. Die Laborhelfer bereiteten einen Bunsenbrenner und eine Glasapparatur vor. Die Studenten vervollständigten ihre Mitschriften oder schauten beim Aufbau zu. Doch in den Augen von Jerara und dem Professor sah er, was er selbst fühlte. Aufregung. Vorfreude. Brennende Neugier. Jetzt waren es nur noch wenige Minuten, bis sie wussten, wie alt der Knochen war. Der erste Schritt zur Lösung des Rätsels. Das waren die Augenblicke, für die sich die lange Studienzeit gelohnt hat.
„Ich nehme Wetten an“, rief der Professor fast übermütig in die Runde. „Wie alt ist der Knochen? Was meinen Sie? Und bitte mit fundierten Begründungen. Immerhin arbeiten wir in einer Disziplin der Geisteswissenschaften.“
„630 Jahre“, rief einer der Studenten.
„Wieso bitte?“
„Weil …. Weil das Grab so lange schon verschlossen ist. Sie haben gesagt, dass der Mörtel des Grabdeckels unangetastet war. Also muss der Knochen zur Zeit der Grablegung reingekommen sein. Das war 1371, also vor rund 630 Jahren. Plus Minus ein bisschen.“
Der Professor nickte mit gespitzten Lippen, während er den Knochen in einer Quarzampulle verbrannte. Nur so lösten sich die organischen Bestandteile, die anschließend mit einem Zählrohr gemessen werden konnten. Anhand ihres Zerfalls sollte das Alter der Probe bestimmt werden.
„Ich denke, das Bein ist viel älter“, rief ein weiterer Student. „Es ist ja, anders als die Leiche vom Grafen, ganz blank. Wahrscheinlich ist es so schon in das Grab reingekommen. Also muss er deutlich älter sein.“
Alphen gefiel die Antwort nicht. Sie war in der Wortwahl respektlos und in der Sache nicht ganz stimmig.
„Keine Proteste gegen die These? Das erstaunt mich. Die Vermutung, dass dieses zusätzliche Bein nicht im Grab von Graf von Arnsberg verwest ist, ist zutreffend. Zumindest haben wir dafür keine Anhaltspunkte gefunden.“ Er schaute kurz grinsend von seiner Arbeit auf, wurde dann aber wieder ernst. „Dennoch sollten Sie alle sich noch einmal die Zeitspannen anschauen, in denen ein Körper verwest, wenn er nicht in einem Sarg gelagert wird. Natürlich sind die äußeren Umstände, Wetter und Temperatur dafür entscheidend. Aber man kann sagen, dass ein Körper in Mitteleuropa an der Luft in ca. 40 Tagen verwest. Im Wasser dauert es doppelt so lange, in der Erde sogar achtmal länger. Das bedeutet, dass von einem menschlichen Körper, auch wenn er vergraben war, nach rund einem Jahr nur noch Knochen übrig sind. Ein Jahr, meine Damen und Herren. Das ist historisch betrachtet ein Nichts. Und übrigens auch bei den besten Proben über eine C14-Messung nicht festzustellen.“
Gemurmel machte sich unter den Studenten breit. Niemand traute sich, noch einen Vorschlag zu machen, um nicht auch so abgekanzelt zu werden.
„Ich denke aber auch, dass der Knochen deutlich älter ist“, erhob sich dann doch die zaghafte Stimme einer der Studentinnen, die vorhin noch die Augen verdreht hatten.
„Wieso bitte?“
„Wenn der Knochen in einem geschlossenen Grab eines so wichtigen Mannes liegt, dann ist es vielleicht der Teil eines Menschen, der in der Urphase des Doms bestattet wurde. Um Platz zu schaffen, werden Gräber ja immer wieder aufgelassen und etwaige Überreste ehrenvoll bei neuen Bestattungen untergebracht. Vielleicht war 1371 ein Jahr, in dem Gräber umgesetzt wurden, und das hier ist ein Beweis dafür.“
„Ein Beweis? Sie raten also, dass es so sein könnte? Haben Sie Anhaltspunkte, dass es eine solche Aktion im Jahre 1371 gab?“
„Das … hm … das müsste ich mal googeln.“ Sie zog ein rosafarbenes Smartphone mit einem silbernen Anhänger hervor. Scheinbar ein winziger Knochen, der von ihrem Telefon baumelte.
„Tun Sie das, aber bitte nicht jetzt.“ Der Professor nahm die Probe von der Flamme und schaute bedeutungsvoll in die Runde. „Jetzt erst einmal so wenig wie möglich Strahlung. Wir werden nun messen.“
„Und dann rechnen“, murmelte es aus der Gruppe der Studenten.
Andreas lachte in sich hinein: „Nein, das Gerät zeigt uns schon das Alter an.“
„Warum mussten wir dann den ganzen Mathequatsch machen?“
„Weil Sie hier eine ganzheitliche Ausbildung erhalten. Sie wollen doch begreifen, was das Ergebnis der Messung bedeutet und wie es zustande gekommen ist. Bitte ein bisschen mehr Forschergeist, meine Damen und Herren. Wenn Sie nicht für den Blick rechts und links Ihrer Arbeit offen sind, werden Sie niemals ein guter Historiker werden.“
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