Raimund starrte ihn noch einige Sekunden mit leerem, nach innen gekehrtem Blick an, dann realisierte er, was sein Mitarbeiter gesagt hatte, und tauchte wieder in die Wirklichkeit ein: „Wie meinst du das? Racheakt?“
„Naja, du weißt doch, wie sehr Gottfried von seiner Familie gehasst wurde. Deshalb doch auch das Gitter über seinem Sarkophag. Nachdem er all seinen Besitz der Kirche vermacht hatte, konnte er seines Lebens nicht mehr sicher sein. Und auch seine Totenruhe sah er offensichtlich gefährdet. Was ist, wenn einer seiner Verwandten den Knochen mit in den Sarg legen ließ? Um seine ewige Ruhe zu stören und sein Grab von innen zu schänden?“
Jerara hatte aufmerksam zugehört: „Wie soll das denn gehen?“
„Ich könnte mir vorstellen, dass seine Familienmitglieder tief religiös waren. Auch wenn sie die Schenkung an die Kirche missbilligten, weil sie damit selbst leer ausgingen, werden sie in der Tiefe ihrer Herzen gläubig gewesen sein. Ein falscher Knochen im Grab könnte – nach damaliger Ansicht – schon den Weg ins Paradies verbauen. Wenn die Trompeten zum letzten Gericht rufen, steht die sterbliche Hülle von Gottfried auf mit dem, was im Grab liegt. Und dann steht er da mit drei Beinen. Vielleicht mit dem Knochen eines Wucherers oder gar eines Selbstmörders. In der Vorstellung der damaligen Bevölkerung reichte so etwas schon aus, um zur ewigen Verdammnis verurteilt zu werden.“
Raimund sinnierte dieser Idee hinterher, während ihm der Köbes – der Kellner in einer solchen Brauereischänke, auch wenn man ihn nie Kellner nennen durfte – ein neues Bier hinstellte. Hier war es üblich, dass nachgeliefert wurde, bis man den Bierdeckel auf das Glas legte. Erst das war das Zeichen, dass man zahlen wollte. Das hatte Ray aber noch nicht vor. Er wollte auch nicht nach Hause gehen. Dort erwartete ihn nichts. Seine Wohnung war wunderbar gelegen, Rheinnähe, Altbau-Charme. Hohe Decken, mit einem Kamin im Wohnzimmer. Dennoch … seit Sabine nicht mehr bei ihm war, gab es keinen Grund, in seinen Wohnsitz allabendlich zurückzukehren. Er hatte seine Frau in drei Stufen verloren und die letzte tat noch immer weh. Zuerst war er wegen all seiner Forschungsaufträge durch die ganze Welt gereist und hatte seine damals noch junge Partnerin viel zu oft allein gelassen. Sie hatte ihn nicht begleiten können und sie war auch nicht in seinen Gedanken bei ihm gewesen. Nur kurze acht Monate waren sie vor der Hochzeit zusammen gewesen. Doch anstatt nach der Hochzeit ein wenig zu bleiben und sie kennenzulernen, war er losgezogen. Den alten Mumien und Inkagräbern hinterher. Er hatte gar nicht gemerkt, dass sie sich in der wenigen Zeit, in der sie sich sahen, eher voneinander entfernten als annäherten. Bei jeder Reise einen Schritt mehr.
Erst als Raimund eines Tages nach Hause gekommen war und seine Wohnung leer vorfand, wurde ihm klar, dass sie gegangen war. Die Möbel waren noch da, ebenso seine Bücher, sein Arbeitszimmer war unberührt. Doch sie hatte all ihre persönlichen Sachen mitgenommen und war verschwunden. Sie war fort und mit ihm ein Teil seiner selbst.
Doch was Leere bedeutet, hatte er erst begriffen, als die Polizei in seinem Büro in der Universität gestanden hatte. Als sie ihm von dem Unfall berichteten, dem LKW, der Sabine in Sekunden getötet hatte. Da wurde ihm zum ersten Mal klar, dass er noch immer irgendwo im tiefsten Inneren seiner Gedanken gehofft hatte, sie würde irgendwann einmal zu ihm zurückkehren. Denn er konnte körperlich spüren, wie diese Hoffnung jetzt zerbrach. Mit einer Gewalt und einem Schmerz, den er sich bis dahin nicht hatte vorstellen können.
Und so stand er fortan morgens auf, ging zur Arbeit – ob nun in sein Büro in Köln oder zu einer Ausgrabung in Peru war ihm einerlei – und versenkte sich so tief in die Geheimnisse der Geschichte, dass er die Schmerzen der Gegenwart solange ausblenden konnte, bis er tiefabends irgendwann doch wieder in seine stille Wohnung zurückkehren musste.
„Professor?“
Raimund schreckte auf. Jeraras junges Gesicht und seine großen Augen schwebten dicht vor ihm und er konnte die unausgesprochene Frage in seinem Blick lesen.
„Mir geht es gut, Jerara. Alles okay.“
Dabei war das gar nicht der Grund seiner Frage gewesen, wie der Professor nun merkte. Der eine Arm lag auf dem Tisch und er hatte sein Kinn in die Ellenbeuge gebettet, die andere Hand hielt das Kölsch-Glas fest umklammert. Ein Köbes stand neben ihrem Tisch und zog an dem länglichen Bierglas, das liebevoll „Stange“ genannt wurde. Die Kraft, mit der dieser eigentlich nette mittelalte Herr an dem Glas festhielt, erstaunte den Köbes ebenso wie die Tatsache, dass er am Tisch einschlief.
Betreten ließ Raimund das Glas los und richtete sich auf. Er spürte die Augen des Kellners auf sich liegen und ihm wurde bewusst, wie das aussehen musste. Ein Mann in seinem Alter sollte nicht am Tisch einschlafen – auch wenn er nicht geschlafen, sondern nachgedacht hatte – und Andreas´ Blick wirkte abends auch oft starr und stechend, was aber nur an seinen schlechten Augen und den dicken Brillengläsern lag. Und bei sich hatten zwei so unterschiedliche, aber auffällige Männer einen hübschen Jungen, der zumindest jetzt unsicher und nervös wirkte. So tolerant sich Köln doch immer gab, existierten auch hier Grenzen.
„Zahlen, bitte“, sagte Andreas und deutete mit einer Geste an, dass er die Kosten für den gesamten Tisch übernehmen würde. Danach schob er seinen Freund und Vorgesetzen am Arm durch das Brauhaus hinaus an die frische Luft und setzte ihn in ein Taxi.
Am nächsten Morgen stand Andreas schon früh im Labor und schaute sich das Knochenfragment an, das nun schon gesäubert und vorbereitet war. Es fehlte nur noch die Säurebehandlung, die der Professor unbedingt selbst durchführen wollte. Noch war er nicht eingetroffen, aber Andreas wusste, dass er bald kommen würde. Die Stimmung, in der Ray sich gestern Abend befunden hatte, würde ihn wieder einmal um den Schlaf gebracht haben und das Rätsel um den Beinkochen hatte bestimmt noch seinen Teil dazu beigetragen. Andreas selbst war bestimmt zwei Stunden in seiner Wohnung im Kreis gelaufen, vom Wohnzimmer in die Küche, von der Küche ins Schlafzimmer, von dort wieder durch die Küche ins Wohnzimmer. Sein Körper hatte das von ganz allein getan, während sein Kopf arbeitete. Andreas war kein historischer Fall aus der westlichen Zivilisation bekannt, in dem ein zusätzlicher Knochen in einer bedeutenden Grabstätte gefunden worden war. Heutzutage kam das öfter vor. Die Krankenhäuser wussten sich nicht besser zu behelfen, als amputierte Gliedmaßen den Bestattern zu übergeben, die die Körperteile dann in einen Sarg mit beilegten. In seinen Augen war das unglaublich respektlos, sowohl dem Patienten als auch dem Verstorbenen gegenüber. Und auch für die Angehörigen konnte der Gedanke nicht sonderlich angenehm sein zu wissen, dass zwischen der Asche eines geliebten Menschen auch noch die verbrannten Reste eines abgetrennten Raucherbeins steckten. So etwas war nur in Großzivilisationen möglich, in denen weder Tod noch Leben wertgeschätzt wurden und die die Beziehung zur Natürlichkeit der Existenz verloren hatten. Erst mit dem großen Sterben seit den Revolutionen im 19. Jahrhundert und den nachfolgenden Seuchen und Kriegen im 20. Jahrhundert hatte der Tod nicht seinen Schrecken, aber seine Erhabenheit verloren. Das führte dazu, dass man Menschen in Massengräbern verscharrte und überflüssige Körperteile irgendwo fremdbestatten ließ. Das hätte es im Mittelalter nie gegeben! Zur Zeit der Grablegung des Grafen Gottfried von Arnsberg im Jahre des Herren 1371 war es ein heiliger Akt gewesen, einen Menschen auf den Weg zu Gott zu geleiten. Wie also kam dann das Bein in das Hochgrab im Kölner Dom?
So wie seine Schritte hatten auch seine Gedanken sich immer nur im Kreis bewegt und die Nacht war zu kurz gewesen – zu kurz, um das Rätsel nur durch Nachdenken zu lösen und auch zu kurz, um Erholung zu finden.
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