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Aus smarter Silbermöwensicht
Roman
Martina Kirbach
»Ich kann mir was Besseres denken, als täglich alten Leuten den Hintern abzuwischen!« So hatte Anjas Mitschülerin Melanie abschätzig getönt, als Anja erwähnte, sie könne sich vorstellen, als Altenpflegerin zu arbeiten. ›Und ich kann mir etwas Angenehmeres erträumen, als ständig irgendwelchen Fotografen meinen Busen oder Po zu präsentieren‹, hätte Anja kontern können, denn Melanies Berufswunsch war, ein Model zu werden. Doch anders als diese hatte Anja ihre Gedanken für sich behalten.
Ein kaltblaues Licht kam von der einzigen funktionierenden Neonleuchte des Badezimmerschranks, in dessen Spiegel Anja sich jetzt begegnete.
Die kühle Beleuchtung ließ sie blasser und erschöpfter aussehen, als sie sich fühlte. Anja erschrak, obwohl sie um den wenig schmeichelhaften Effekt der Lampe wusste.
Wieso gelang es ihr nie, rechtzeitig ins Bett zu gehen, um morgens ausgeschlafen aufzustehen? Warum hatte sie mal wieder den Geburtstag ihrer besten Schulfreundin vergessen? Wie konnte es sein, dass sie auf der Arbeit fast immer länger blieb als ihre Kollegen?
Anja versuchte, die Gedanken zurückzudrängen, sich auf die morgendliche Routine zu konzentrieren, aber ihre Arbeitssituation ging ihr nicht aus dem Kopf. Sollte es einen Zusammenhang geben zwischen ihren unkalkulierbaren Arbeitszeiten und der Tatsache, dass ihre Kollegin Martha in jüngster Zeit extrem wortkarg war? Und, aus welchem Grund wurde der Dienstplan neuerdings immer wieder in letzter Minute umgeschrieben?
Wieso beschäftigte sie sich überhaupt mit diesen Fragen? Sie hatte ihr Leben doch im Griff. Das Arbeitsklima war angenehm, die meisten Kollegen einfühlsam, hilfsbereit und nett. So manche kritische Situation wurde gemeistert, weil man die Stärken wie die Schwächen der anderen kannte und sich gegenseitig ergänzte. So schien es zumindest.
Sie selbst sah sich als eine starke Frau, die wusste, was sie tat und auf welchem Weg sie war: auf dem Pfad zu einem endlich selbstbestimmten Leben. Nur, warum hatte Mona sie am Freitag so besorgt angeblickt? Anja sah ihre resolute Freundin vor sich, mit ihren kurzen, dunklen Haaren, in denen sich vereinzelt graue Strähnen fanden, ohne dass zu erkennen war, ob sie naturbelassen oder getönt waren. Mona hatte ihre Hornbrille ein wenig zurückgeruckelt und gesagt: »Anja, pass auf dich auf!« Ohne, dass diese nachfragen konnte, hatte der Pager geklingelt und jeder war zu seiner Aufgabe geeilt.
»Mama? Wir sind fertig«, sagte ihre Tochter Clara leise. Sie war verunsichert, wie sie mit den, sich in letzter Zeit häufenden, Tagträumereien ihrer Mutter umgehen sollte. Anja zuckte zusammen, dann verließ sie hastig das Badezimmer.
»Clara, Phillip, sorry, ich habe geträumt. Habt ihr alle Schulsachen? Hier sind eure Pausensnacks und etwas zum Trinken. Macht’s gut und überquert die Straßen bitte nur an den Ampeln, ja?«
»Aber Mama, das musst du uns nicht jedes Mal sagen«, antwortete Phillip vorwurfsvoll, packte die Sachen ein und zog mit seiner Schwester los.
Als die Tür ins Schloss fiel, lauschte Anja für einen Moment, wie die Schritte ihrer Kinder im Treppenhaus verhallten. Nun war sie mit ihren Gedanken erneut allein.
Warum nur hatte ihre Freundin und Kollegin ihr geraten, auf sich aufzupassen? Die Frage ließ sie nicht los. Trotz der anstrengenden Arbeit konnte man auf ihrer Station doch gemeinsam herzlich lachen. Zum Beispiel, wenn es der sehbehinderten, im Rollstuhl sitzenden Frau Weber mit Hilfe einer anderen Mitbewohnerin wieder gelungen war, sich unbemerkt auf den Weg zu machen, um ihre Weinvorräte aufzustocken. Hierzu hatte sie sich mit Frau Keimer verbündet. Diese hatte eine noch milde Ausprägung von Alzheimer und war begeistert, sich mit ihrer neuen Freundin unbemerkt aus dem Haus zu schleichen. Was gar nicht heimlich hätte geschehen müssen, da keine der beiden sich in einer geschlossenen Abteilung befand. Dennoch spürten sie, dass das Pflegepersonal es ungern sah, wenn sie das Haus unbeaufsichtigt verließen. Folglich machten sich die zwei Damen regelmäßig durch einen Notausgang aus dem Staub, ohne sich abzumelden. Frau Keimer kicherte dann pausenlos, Frau Webers sonst angespanntes Gesicht wurde weich und gelöst. Frau Keimers Tochter waren diese Umtriebe ihrer Mutter zu Ohren gekommen und sie hatte eine Verabredung mit dem nahegelegenen Taxibetrieb getroffen: Wann immer die Fahrer dieser beiden Damen gewahr wurden, chauffierten sie diese nach einer gewissen Zeit zurück ins Seniorenheim. Unter der Voraussetzung, dass es sich um Heimfahrten und keine Ausflüge handelte, beglich die Tochter umgehend die Rechnung – eine Vereinbarung, mit der alle gut leben konnten.
Amüsant war auch, wie manche Leute einfache Dinge verkomplizieren konnten: beispielsweise der Kollege Peer, der ständig versuchte, die Medikamentenausgabe zu perfektionieren, aber regelmäßig länger brauchte als alle anderen.
Anja konnte ehrlich über sich selbst lachen, weil sie sich in den Marotten der Mitarbeiter oder Bewohner wiedererkannte. Da war die verträumte Frau Senser, die immer wieder vergaß, sich für die Nacht fertig zu machen, weil sie so gerne dem Abendgesang der Amseln lauschte. Oder der etwas pedantische Herr Meyer, welcher sich weigerte, zu Tisch zu kommen, wenn er sein Puzzle nicht vollendet hatte.
Anja hatte den Eindruck, dass man an ihrem Arbeitsplatz bei Bedarf unzensiert stöhnen durfte, und so manche Durststrecke überbrückte, weil das Stationszimmer ein Ort war, wo man seine Maske fallen lassen konnte. Zumindest bislang.
Nur, aus welchen Grund hatte Mona sie letztens so seltsam angesehen? Anschließend hatte ihre Lieblingskollegin erreicht, dass sie beide in die gleiche Schicht kamen, fast so, als ob sie Anja beschützen müsse.
Anja ging in ihrem Beruf auf. Die Arbeit auf der Pflegestation war anstrengend aber befriedigend. Ihr ursprünglicher Wunsch, Ärztin zu werden, war 1979 entstanden, als im Fernsehen eine Dokumentation über die Aktivisten der Cap Anamur im südchinesischen Meer lief. Diese freiwilligen Helfer retteten tausende Vietnamesen, die dem Krieg in ihrem Land auf dem Meeresweg zu entkommen versuchten, und versorgten sie medizinisch an Bord des Schiffes. Viele Jahre später sah Anja sich, wenn man sie nach ihren Berufswünschen fragte, nach wie vor im humanitären Einsatz. Jetzt kamen erneut Flüchtlinge, nur sah Anja ihre Aufgabe heute mehr an der Seite alter Menschen, die in ihrer Hilfsbedürftigkeit und Hilflosigkeit Ertrinkenden ähnelten.
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