„Corinna.“ Sie setzt sich auf den Besucherstuhl. „Corinna Tillmann.“ Die Officemanagerin zieht das Küchenmesser aus der Schreibtischplatte und deutet damit auf die Besucherin. „Liebe Corinna, besitzt du Musikkassetten?“
„Zum Henker mit der Liebe.“
„Und die Kassetten?“
„Chromdioxid, ein ganzer Umzugskarton. Wie viele?“
Ihr Gegenüber breitet die Arme aus. „Eine Einkaufstüte. Im wievielten Semester bist du?“
„Wie viele Kassetten sind eine Einkaufstüte?“
„Du willst es aber genau wissen.“
„Genau.“ Corinna hat an Selbstsicherheit gewonnen. Bestechung lässt sich berechnen. „Ich will es genau wissen.“ Die Finger der Officemanagerin finden eine Haarsträhne und stopfen sie zurück in die Frisur. „Vierzig. Ist das genau genug?“ Corinna stützt sich mit den Ellenbogen auf der Schreibtischplatte ab. Ihr Gegenüber kann kaum älter sein als sie selber. Sie hat eine Stupsnase mit Sommersprossen, eine helle Hautfarbe und einen üppigen Busen, über den sich ein T-Shirt spannt. Corinna liest: Das ist ein T-Shirt . Darunter in kleinerer Schrift: Und wenn du ein Mann bist, dann lebst du gerade gefährlich . Über dem Kragen ein kreisrundes Muttermal. Auf den Armen mehr Sommersprossen. Die Augen haben keine Farbe und stehen in einem unnatürlichen Winkel zueinander. Es ist schwer auszumachen, aber wenn man es einmal erkannt hat, ist es deutlich: Die Officemanagerin schielt. Corinna winkelt ihren Unterarm an und lässt den ausgestreckten Mittelfinger in Augenhöhe stehen. „Bin kein Mann.“ Ihr Gegenüber spitzt die Lippen und lässt hörbar Luft ab. „Erstes Semester“, fügt die Besucherin hinzu. Die Officemanagerin nimmt einen Ordner und liest: „ Das Grundstudium vermittelt vorwiegend grundlegende theoretische und methodische Kenntnisse sowie eine Orientierung über Forschungsergebnisse. “ Sie stellt den Ordner zurück. „Gerne ignoriere ich die Studienordnung, wenn es gute Gründe dafür gibt. Gibt es gute Gründe, Corinna Tillmann?“ Corinna beugt sich ihr entgegen. „Vierzig Kassetten sollten dir Grund genug sein.“
„Und deine Gründe, Corinna Tillmann?“
Corinnas Lächeln entblößt ihre untere Zahnreihe. Vom linken unteren Eckzahn ist hinten ein Stück weggebrochen. „Die Kassetten und das Bekenntnis, dass mein Interesse der männlichen Gesellschaft gilt.“ Die Officemanagerin lässt sich in ihren Stuhl zurückfallen. Diese Frau hat was. Sie ist derb und verletzlich und schön und alles zugleich. Der Körper ist obenrum schlank. Untenrum, da wirkt er etwas gedrungen. Große, hellblaue Augen, eine hohe Stirn und hohe Wangenknochen. Das auf zwei Zentimeter gestutzte, wasserstoffblonde Haar steht dornig vom Kopf weg. Vor was tust du dich schützen, Corinna Tillmann? Die Gesichtszüge sind harmonisch, fast weich, bis auf eine tiefe Falte in der Stirn. Das Lächeln wirkt aufgesetzt und entwaffnend zugleich. Keine wirkliche Schönheit, aber was ist schon wirklich, und wer will schon einen Körper, der vollkommen ist, aber ansonsten eine Menge Ärger einbringt. Genaugenommen ist sie zweimal wirklich, obenrum wirklich nordisch und untenrum wirklich südländisch, und sie ist eine Frau, die sich nicht versteckt. Corinna Tillmann, da ist etwas, was ich nicht greifen kann, jenseits von schön und derb und dem Lächeln, ich werde es finden und meine Hand darauf legen. Ihre Geste signalisiert Anerkennung. „Ich habe dich in der Straßenbahn gesehen. Ein schönes Transportmittel, aber träge, aber schön.“
Mit dem Lächeln glättet sich die Falte auf Corinnas Stirn. „Der Weg ist das Ziel.“
„Eine Botschaft.“ Die Officemanagerin legt ihre Hand auf den Mann unter ihrem Busen. „Was wäre die Welt ohne Botschaften.“ Sie streckt der Besucherin die Hand entgegen. „Julia Rotbarsch. Kannst den Mittelfinger runternehmen.“ Corinna zögert und nimmt dann die Hand umso entschlossener. „Ich empfehle dir die Biologie als Ergänzungsfach. Da ist eine Teilnehmerin abgesprungen. Thema Verhaltensmuster in der Humanbiologie.“ Corinna deutet auf den Kopfhörer, der neben dem Telefon liegt. „Das warst du da oben.“ Rotbarsch versteht nicht. „Am Fenster. Du hast zu mir runtergeschaut, und ich habe dich für einen Mann gehalten.“ Rotbarsch lacht. „Für einen Mann mit gewaltigen Ohren und gewaltigem Bart.“ Rotbarsch stülpt sich die Polster über die Ohren. „Der hat noch ein Gewicht hat der.“ Der Bügel hängt unter dem Kinn. Corinna zögert und lacht dann umso entschlossener mit. Aus dem Kopfhörer dringt Oldiemusik. „Früher war alles besser?“
„Früher, ja, aber heute ist auch schön.“ Rotbarsch macht sich daran, eine Apfelsine zu schälen. „W 33, den solltest du dir distal vergolden lassen.“ Jetzt ist es Corinna, die nicht versteht. „Deinen Eckzahn, die Rückwand, sonst kriegst du es sehr bald mit Karies zu tun, ich kenne mich mit so etwas aus.“ Corinnas Hand fährt zum Mund, ein Automatismus, und ihre Zunge tastet nach W 33.
02. Dienstag, 24.12.2013 |
02. Dienstag, 24.12.2013 |
Er ist allein. Schleyer wird später kommen, nach seiner Arbeit, die nach dem Dauerregen der letzten Wochen reichlich gewesen sein wird. Reichlich anderer Leute Hecken schneiden und anderer Leute Laub rechen und all die anderen Arbeiten verrichten, für die andere Leute einen Gärtner bezahlen. Er winkt dem Kellner. Fronzek und Albers hat er ebenfalls herbestellt, auch wenn er sich nicht sicher ist, ob er sie dabei haben will.
„Ein großes Glas Bier, mit ordentlich Schaum drauf.“
„Flasche oder Hahn?“
„Na Fass, oder hast du schon mal ordentlichen Schaum in der Flasche gesehen?“
„Bei uns wird getrunken, was auf den Tisch kommt.“ Die Mine des Kellners fordert zum Scherzen auf.
„Bei uns?“ Sailors Blick wird hart. „Was heißt das?“
„In Berlin, bei uns in Berlin, wussten Sie das nicht?“
„Da lebt man gefährlich“, weiß Sailor, „pass auf, was du sagst.“
„In Ordnung, jawohl, zu Ihren Diensten.“ Der Kellner deutet eine Verbeugung an und macht sich ans Zapfen. Sailor massiert sich den Nacken. Er hat letzte Nacht einen Zug abbekommen. Er sollte das Fenster abdichten. Und etwas gegen den Schimmel tun, der sich durch das Zimmer frisst. Er spürt die Narbe, die sich vom Daumenballen quer über den Handrücken zieht. Sie hat mit der Kälte, die sie draußen abgekriegt hat, eine violette Färbung angenommen und lässt ihn spüren, was es heißt, vierzig Jahre auf einem Schiff gearbeitet zu haben. Er spreizt die Finger und ballt sie zur Faust. Die Haut strafft sich, und mit ihr die Narbe. Er konzentriert sich auf den Schmerz, der seine Gedanken klar und hart werden lässt. Der Kellner bringt das Bier. Die Sache ist die, dass es zu zweit eng werden wird. Zwei werden sie schon allein für den Fahrerjob brauchen, und noch mindestens einen, der ihnen bei der Übergabe zur Hand geht. Sich auf den Chinesen zu verlassen wäre ein Fehler. Er sieht sich um. Am Ende des Tresens steht eine Handtasche. Eine Frau, denkt Sailor, die auf der Toilette ist oder beim Telefonieren. Er trinkt. Eher beim Telefonieren, überlegt er weiter, auf die Toilette hätte sie wohl die Handtasche mitgenommen. Es ist eine sehr weibliche Handtasche, mit zwei steifen Schlaufen, die im halbkreisförmigen Bogen über der Tasche stehen, und mit einer Stickerei, die das Licht reflektiert. Im Grunde genommen ist jede Handtasche weiblich, denkt Sailor, aber es gibt eben welche, die sind es ganz besonders.
Hinten spielt ein Mann den Flipperautomaten. Er steht mit gespreizten Beinen davor, und wenn er die Knöpfe drückt, dann geht ein Ruck durch seinen Körper. Am Tisch neben dem Fenster liest ein Mann Zeitung. Er hat Weihnachtseinkäufe neben sich auf der Bank stehen. Der Temperaturunterschied zwischen drinnen und draußen hat Feuchtigkeit kondensieren lassen, die an dem Fenster haftet. Jemand hat einen Weihnachtsstern in die Feuchtigkeit gemalt. Der Flipperspieler kommt an die Bar, um einen Schein in Münzgeld zu wechseln. „Was für ein Wetter.“ Er deutet mit dem Kinn zur Tür und nimmt die Münzen entgegen. „Und morgen kommt der Temperatursturz.“ Er sieht Sailor auffordernd an. Sailor nickt. Er ist zurück in Berlin. Die Menschen hier wollen Bestätigung. Auf See, da gibt es so etwas nicht. Da gibt es die See, mit allem, was dazugehört, und bei Gott, für was sollte die See eine Bestätigung brauchen?
Читать дальше