Ein Drache stand etwa dreißig Fuß von ihr entfernt zu ihrer Rechten, dort, wo der Weg zum Hof begann. Sein grauer Schuppenpanzer schimmerte silbrig matt im Mondlicht, und seine Schwingen waren angelegt. Es sah aus, als ob er auf etwas wartete.
„Also sind es doch die Drachen, die mich suchen”, dachte Dindra entmutigt. Sie waren ihr feindlich gesinnt, und das scheinbare Einverständnis mit Maquon war nur eine Illusion gewesen.
Während sie noch überlegte, was sie jetzt tun sollte, setzte sich der Drache unruhig in Bewegung. Dabei bemerkte Dindra, dass er einen Reiter trug, der bis dahin hinter dem Kopf des Drachen verborgen gewesen war. Statt der üblichen Drachenreiterkleidung trug er einen dunklen Umhang mit einer Kapuze, die seinen Kopf vollständig bedeckte. Der Drache wandte sich zunächst ein Stück nach rechts, kehrte dann um und näherte sich der Stelle, an der sich Dindra versteckte. Als er fast auf ihrer Höhe war, blieb er stehen. Sie fürchtete schon, dass er sie entdeckt hatte, aber dann wandte er sich wieder ein Stückchen nach rechts und blieb dort stehen.
Der Reiter richtete sich im Sattel auf. „Verbirgst du dich immer noch vor mir?” Die Stimme schallte dünn über das Grasland. Ihr Klang war kalt, der Ton höhnisch.
„Ich weiß, dass du dort irgendwo steckst.” Der Reiter lachte. „Ich weiß, du hast ein weiches Herz. Das habe ich immer an dir gehasst. Du würdest nicht zulassen, dass den Menschen auf dem Hof etwas geschieht, nicht wahr? Also komm heraus und zeig dich!”
„Er redet, als ob er mich kennen würde”, dachte Dindra verwirrt. Wer konnte das sein? Sie beschloss, abzuwarten und im Versteck zu bleiben.
Der Drache setzte sich wieder in Bewegung, passierte den Baum, hinter dem Dindra sich verbarg, und blieb wieder stehen.
„Was ist?”, rief der Reiter. Sein Gesicht war in den Schatten unter der Kapuze nicht zu erkennen. „Worauf wartest du? Es hat keinen Sinn mehr, sich zu verstecken. Ich habe dich gefunden, nach all der Zeit. Du hast es verstanden, dich unsichtbar zu machen. Ich hatte die Suche schon fast aufgegeben. Aber dann hast du einen Fehler gemacht. Hast einem Drachen geholfen, meinen Befehlen zu widerstehen. Hast du Mitleid mit ihm gehabt? Hast du nicht daran gedacht, dass ich es merken würde?” Er lachte spöttisch. „Wieder dein weiches Herz. Zu weich!”
„Maquon!”, dachte Dindra. „Er meint Maquon.” Sie hatte dem Drachen geholfen, ohne zu wissen, wobei. Dieser Reiter mit der Kapuze war es, der Maquon so aufgebracht hatte! Aber was hatte sie getan, um ihm beizustehen? Es war nur dieses Leuchten um sie herum gewesen, sonst hatte sie nichts gemacht. Es wurde immer rätselhafter.
„Ich habe die Stelle gefunden, an der du wieder aufgetaucht bist”, fuhr der Reiter fort. „Jener Drache hatte es fast aufgegeben, sich gegen mich zu wehren, und als er sich mir entzog, auf eine Weise, wie sie nur du und ich bewerkstelligen können, wusste ich, dass du bei ihm warst. Ich habe eine Weile gebraucht, um den schwachen Abglanz deines Seelenlichts auf der Ebene zu finden.” Er lachte wieder. „Du hast deine Spuren nicht verwischt. War es Nachlässigkeit oder hast du dich sicher gefühlt nach all der Zeit? Wie unbedacht von dir! Du wirst niemals sicher vor mir sein. Hast du gespürt, wie ich nach dir gesucht habe gestern Nacht?”
„Godru war also doch nicht betrunken gewesen“, dachte Dindra. „Er hat tatsächlich einen Drachen bei Etrus Hof gesehen.“
Immer noch ließ der Reiter den Drachen hin und her marschieren. Er wusste offensichtlich nicht, wo Dindra sich befand.
„Es wird dir nicht gelingen, mir zu entkommen”, sagte er. „Du wirst müder und müder werden und bald wird dein Schlaf tief genug sein, um dein Seelenlicht so lange leuchten zu lassen, dass ich dich finden kann. Gib es auf! Ich kann nicht dulden, dass es außer mir noch jemanden gibt, der über die Feuerseelen der Drachen gebieten kann. Was hast du jetzt vor? Willst du dich wieder in Goldfels verkriechen? Oder hast du es dir überlegt?” Seine Stimme bekam einen beschwörenden Klang. „Hör zu! Meine Macht ist größer geworden. Bald werden alle Drachen mir gehorchen müssen. Ich werde über die Stationen und über die Ebene herrschen! Du kannst mir dabei helfen. Ich gewähre es dir, denn wir sind miteinander verbunden. Ich habe es dir schon einmal angeboten, vor fünfzehn Zeiten der heißen und kühlen Sonne. Aber du hast es vorgezogen, vor mir zu flüchten, obwohl wir zusammen sicher schon erreicht hätten, was ich anstrebe.” Er klang bitter. „Es ist das letzte Mal, dass ich dir anbiete, mit mir zu herrschen.”
„Kirin!”, dachte Dindra plötzlich. „Er glaubt, er redet mit Kirin!”
Sie hatte vor fünfzehn Zeiten der heißen und kühlen Sonne Goldfels verlassen und Etru geheiratet. Dindras Herz pochte aufgeregt. Offenbar wusste der Reiter nicht, dass ihre Mutter tot war. Aber woher kannte er sie? Wer war er? Kirin musste vor ihm geflohen sein, damals. Vor ihm und seinen Plänen, die mit den Drachen zu tun hatten.
„Wenn Kirin sich nicht darauf einlassen wollte”, dachte Dindra, „darf ich es auch nicht tun.”
„Du antwortest nicht?”, schrie der Reiter wütend. Der Drache bäumte sich auf, und seine Flügel entfalteten sich halb. „Also schön! Du bist immer noch derselbe störrische Nichtsnutz! Ich wollte dir ein letztes Mal die Gelegenheit geben, deine Meinung zu ändern. Wenn du nicht auf meiner Seite bist, musst du sterben! JETZT!”
Er beugte sich tief über den Hals des Drachen, als ob er ihm etwas zuflüstern wollte, und dieser riss das Maul auf und spie einen gewaltigen Feuerstrahl in das Wäldchen, der sofort die äußeren Bäume in Brand setzte. Dindra, die sich weit genug von der Stelle entfernt befand, um nicht von dem Feuer erfasst zu werden, stieß sich von dem Stamm, hinter dem sie hockte, ab, und rannte blindlings durch den Wald. Hinter sich hörte sie den Drachen fauchen, und dort, wo sie einen Augenblick zuvor noch gekniet hatte, gingen die Bäume in Flammen auf. Weitere Feuerstöße folgten. Der Atem des Drachen trieb das Feuer weiter in das Wäldchen hinein. Dindra spürte die Hitze im Rücken und rannte noch schneller, aber der Rauch, den das lichterloh brennende Laub entwickelte, brachte sie zum Husten und erschwerte das Atmen.
„Ich muss aus dem Wald raus!”, dachte sie. Auf ihrer linken Seite, dort, wo der Drache zuerst Feuer gespuckt hatte, überholten die Flammen sie schon. Sie erleuchteten die Dunkelheit des Waldes, sodass es fast taghell war. Es hatte den Vorteil, dass Dindra alle Wurzeln und Fallen meiden konnte, aber sie war gezwungen, auf die rechte Seite auszuweichen. Das Wäldchen war nicht groß. Wenn der Drache es umrundete und auf allen Seiten in Brand setzte, saß sie in der Falle, und wenn sie es verließ und hinaus aufs Grasland lief, würde der Reiter sie sehen.
Rechts von ihr, in der Richtung, in die das Feuer sie getrieben hatte, brannte es auch schon. Der Drache war schneller als sie erwartet hatte. Um sie herum knackte, krachte und fauchte es, als ob von allen Seiten wütende Untiere auf sie zu rasten. Sie änderte die Richtung und lief wieder geradeaus, sprang über Steine, Wurzeln und tote Äste. Es war ein verzweifeltes Wettrennen. Schweiß lief ihr in Strömen übers Gesicht. Die Hitze konnte sie umbringen, bevor die Flammen sie erreichten, oder der Rauch würde sie ersticken, wenn sie nicht schnell genug war. Aber das Grasland hatte sie laufen gelehrt. Niemand lief so schnell über das Gras wie sie. Alfru hatte sie niemals einholen können, denn niemand außer ihr hatte diese unsinnige Angst, im grünen Meer zu versinken. Außer Kirin vielleicht.
Kirin! Der Gedanke an ihre Mutter trieb sie noch schneller voran. Sie durfte hier nicht sterben! Sie musste herausfinden, was der unheimliche Reiter mit Kirin zu tun hatte. Er hatte so vieles gesagt, das Dindra verwirrte. Kirin war wie er gewesen, so viel hatte sie verstanden. Und er fürchtete sie so sehr, dass er sie töten wollte, wenn sie nicht auf seiner Seite war.
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