Manfred Lafrentz
Dindra Drachenreiterin
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Titel Manfred Lafrentz Dindra Drachenreiterin Dieses ebook wurde erstellt bei
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Impressum neobooks
Vereinzelt zuckten noch hier und da Blitze vor der dunklen Wolkenwand. Dindras Arme kribbelten. Es fühlte sich an, als ob alle Härchen gerade abstünden wie Borsten. Als sie den rechten Ärmel ihres Kleides hochzog und mit der Hand über die Haut rieb, knisterte es leise.
Etru würde ärgerlich sein, weil sie während des Gewitters draußen war, aber sie hatte keine Angst vor den Blitzen. Sie waren die Nahrung der Drachen.
Durch einige Löcher in der Wolkendecke fielen bereits Sonnenstrahlen, und am Horizont wurde es hell. Von dem kleinen flachen Hügel aus, auf dem sie stand, schaute Dindra über die Ebene. Mit dem Regen war Wind aufgekommen, hatte die drückende Nachmittagshitze davongeweht und trieb nun das feuchte Gras in langen Wellen vor sich her, auf denen eine Vielzahl von Grüntönen schimmerte. Schatten und blasse Stellen bildeten ein Muster, das sich ständig veränderte und die Gedanken verwirrte. „Es sieht aus wie Wasser”, dachte Dindra, und unwillkürlich flüsterte sie die Worte des Drachensegens vor sich hin.
„Gorn ist ein trockenes Land.
Die Sonne der Ebene ist heiß.
Der Drachensegen bringt Leben
und lässt die Erde gedeihen.”
Sie liebte die Ebene. Ihre Heimat. Aber manchmal machten die grünen Wogen des Graslands ihr Angst, weil sie nie das Gefühl los wurde, sie könnte in ihnen versinken, vor allem, wenn sie so wie jetzt vor Nässe glitzerten und die feste Erde darunter wie eine Illusion erschien.
Dindra schauderte, aber ein schwaches Donnergrollen riss sie aus ihrer unbehaglichen Träumerei, und sie schaute zum Himmel hinauf. Zwei Drachen zogen unter der Wolkendecke entlang, und Dindras Herz schlug schneller. Es war der Anblick, auf den sie gehofft hatte, der Grund, warum sie an Etru vorbei nach draußen geschlichen war und den Hof verlassen hatte, obwohl es noch regnete und Blitze am Himmel zuckten. Augenblicklich vergaß sie die Ebene um sich herum, die den Regen gierig aufgesogen hatte, vergaß Etru und die knurrigen Vorhaltungen, die er ihr machen würde, und hatte nur noch Augen für die mächtigen Schwingen der Drachen, die langsam auf und ab schlugen und silbrig grau aufleuchteten, wenn sie jene Sonnenstrahlen streiften, die nun immer häufiger einen Weg durch die Wolkendecke fanden. Die Reiter waren nicht zu erkennen, aber die Vorstellung, dass Menschen auf den Rücken der riesigen Geschöpfe saßen, machte Dindra schwindlig, sodass sie mit den Händen in der Luft herumrudern musste, um, obwohl sie auf festem Boden stand, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie lauschte angestrengt, aber natürlich hörte sie nichts, denn nun, da das Gewitter vorbei war, hatten die Drachen längst aufgehört zu singen. Sie waren auf dem Rückweg nach Goldfels, der Drachenstation am Westrand des Gebirges, dessen Gipfel am Horizont blaugrau schimmerten. Selbst aus dieser Entfernung waren die riesigen Ausmaße der Berge zu ahnen.
Wie immer empfand Dindra beim Anblick der Drachen eine Mischung aus Ehrfurcht und Neugier. Sie waren die Grundlage allen Lebens auf der Ebene, die ohne die Drachen in der Zeit der heißen Sonne verbrennen musste. Ihr Dienst für die Menschen war ein Segen und ein Rätsel. Alle waren dankbar dafür, auch wenn die nüchternen Hofbesitzer, so wie Etru, kaum einen Gedanken daran verschwendeten, warum die Drachen mit ihrem Gesang die Wolken über die Ebene riefen, wenn die Menschen sie darum baten. „Weil sie von den Blitzen essen müssen”, sagte Etru immer, wenn Dindra ihren Vater danach fragte. Aber das konnten sie auch in den Bergen tun. Nicht einmal die Drachenzähmer in den Stationen konnten das Geheimnis erklären. Es gab Geschichten, wie die über Anandru, den ersten Drachenzähmer, der die Magie der Drachen entdeckte und in den Bergen den ersten Drachen fing. Aber das waren Geschichten, die man den Kindern erzählte und die nichts erklärten. Seit tausenden von Jahren ritten die Menschen Drachen über die Ebene und ließen sie die Wolken aus den Bergen rufen, und inzwischen war es eine Selbstverständlichkeit geworden statt des Wunders, das es war. Die Hofbesitzer murmelten den Drachensegen und feilschten im nächsten Moment mit den Stationen um jeden Tropfen Regen für ihre Felder. Wenn die Drachen über sie hinweg flogen, schauten sie nicht zum Himmel hinauf, sondern auf die Erde, und sie schätzten ihre Ernte ab und waren nie zufrieden.
Für Dindra dagegen war der Anblick der Drachen mehr als die Ankündigung von Gewitter und Regen. Wenn die Gesänge über die Ebene hallten und Etru sie ins Haus rief, folgte sie nur widerwillig und nutzte die erste Gelegenheit, zu entwischen, auch wenn danach das Donnerwetter ihres Vaters nicht weniger heftig ausfiel als das am Himmel. Es war, als ob der Anblick der Drachen eine leere Stelle zwischen ihren Gedanken ausfüllte, ein Loch, das sie unruhig und einsam machte und durch nichts sonst zu stopfen war.
„Warum sind es nur zwei?”, dachte Dindra verwundert, während die beiden Drachen allmählich zu kleinen grauen Punkten wurden und schließlich mit dem Grau der Wolken verschmolzen. Alle wussten, dass die Drachen immer zu dritt ausgeflogen wurden.
Nachdenklich machte sie sich daran, den Hügel hinabzusteigen. Ihr langer, dunkelblauer Rock war nass vom Regen und vom hohen Gras und schlackerte schwer und kalt um ihre Beine. Sie fröstelte. Es würde nicht lange dauern bis die Sonne alles trocknete, aber lange genug, um Etru Gelegenheit zu geben, seine Tochter für ihr unvernünftiges Verhalten zu tadeln. Sie seufzte. Etru mochte es nicht, wenn sie den Drachen nachschaute. Wenn es nach ihm ging, hatte sie während eines Gewitters im Haus zu sein und es nicht zu verlassen, bis die Sonne wieder die Herrschaft über die Ebene gewann.
Sie hatte es nicht eilig, zum Hof zurückzukehren, auch wenn es Etru nicht milder stimmen würde, wenn sie trödelte. Sie machte einen Umweg und schlenderte - anstatt es zu durchqueren und damit den Weg abzukürzen - an einem der kleinen Wäldchen vorbei, die sich außerhalb der Dörfer und Höfe wie Inseln durch die Ebene zogen. Der Wind ließ das Laub der Bäume zu ihrer Rechten rauschen. Es klang, als würden hunderte von Frauen der Ebene in ihren langen Röcken tanzen. Bald würde verzagtes Vogelgezwitscher die Stille des Graslands nach dem Gewitter aufheben.
Es war der letzte Mond in der Zeit der heißen Sonne und die Bäume wurden hier und da schon kahl. Die Blätter der Goldsternbäume waren jetzt gelb, als träumten sie von den vor Monden verlorenen goldenen Blüten, denen sie nun bald folgen mussten. Die wie Hände geformten Blätter der Fingerblattbäume waren längst nicht mehr grün, sondern braun gefleckt, wie die Hände alter Leute. Und über allem leuchtete der Rote Ebenenstolz, der höchste Baum der westlichen Ebene, der sein nun fast purpurnes Laub wie einen Königsmantel zwischen seinen Untertanen trug.
Dindra mochte diese Zeit, die so viel Farbe in das eintönige Grün der Ebene brachte, aber sie mochte auch die Zeit der kühlen Sonne, selbst wenn die Bäume dann zu kahlen Gerippen wurden und das Gras blass oder braun war. Es war die Zeit der warmen Kamine und der langen Geschichten.
Hinter dem Wäldchen lag, zwischen diesem und dem nächsten, eine Schneise, auf der das Gras nicht so hoch wuchs. Sie markierte den Weg zu Etrus Hof. Gerade als Dindra sie betreten wollte, schnitt ein durchdringendes Geräusch durch die Stille der Ebene, wie ein zu stumpfes Messer, das mit hässlichem Reißen groben Stoff durchtrennt. Es hörte sich an, als brüllte ein großes Tier in verzweifelter Todesangst, so entsetzlich und erschütternd, dass Dindra jäh stehen blieb und erschrocken aufschaute. Unwillkürlich wich sie ein paar Schritte zurück vor dem, was sich am Himmel abspielte.
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