Dann merkte sie zu ihrem Entsetzen, dass plötzlich ein schwaches Leuchten von ihr ausging, das sich allmählich verstärkte. Mitten in der Dunkelheit wurde sie sichtbar, ohne selbst etwas von dem sehen zu können, was um sie herum lauerte. Aber sie merkte, spürte es auf der Haut, wie sich Augen auf sie richteten und näher kamen, und wie das, was nach ihr suchte, nach ihr greifen wollte.
„Nein!”, schrie sie und schrak hoch. Sie war wach, saß auf dem Bett in ihrer Kammer, die Augen weit aufgerissen und in eine Dunkelheit starrend, die gegen die ihres Traumes fast hell wirkte. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust, als wollte es sie aufreißen und hinausspringen. Ihre Hände waren schweißnass und in die Bettdecke gekrallt. Eine Weile saß sie nur da, zitterte am ganzen Leib und atmete stoßweise.
„Ein Albtraum”, dachte sie, als sie sich allmählich beruhigte. Ein scheußlicher Albtraum. Warum jetzt, in der Nacht vor ihrer Abreise nach Goldfels? Sie überlegte. Hatte sie Angst vor der bevorstehenden Veränderung ihres Lebens, Angst, die sie sich nicht eingestehen wollte und deshalb den Weg durch ihre Träume nahm? Sorgfältig untersuchte sie ihre Gefühle. Sie war aufgeregt gewesen, ja. Aber Angst? Sie schüttelte den Kopf. Sie freute sich auf Goldfels, auf die Drachen und auch darauf, Ryll wiederzusehen. War es die Ungewissheit über das, was sie erwartete? Es bestand die Möglichkeit, dass man sie wieder wegschickte, weil sie ungeeignet war.
Sie ließ sich zurück auf das Kopfkissen sinken. Ja, davor hatte sie Angst. Davor, den Traum, der wahr geworden war, wieder aufgeben zu müssen, kurz vor dem Ziel ihrer Wünsche abgewiesen zu werden.
Sie drehte sich auf die Seite. Die Spitzen ihren abgeschnittenen Haare stachen ihr in die Wange. Vielleicht war es voreilig gewesen, sich mit Haut und Haar auf die Möglichkeit, Drachenreiterin zu werden, einzulassen. Sie wusste, es würde ihr das Herz brechen, wenn sie es nicht schaffte.
„Ich darf nicht daran denken”, sagte sie sich, und als wollte sie dem Albtraum keine Gelegenheit mehr geben, Macht über sie zu gewinnen, blieb sie bis zum Morgen wach.
Am Morgen war sie müde, aber die Aufregung glich es aus. Sie und Etru saßen in der Halle, um gemeinsam zu frühstücken, etwas, das sie sonst nie taten, denn Etru stand meist auf wenn es noch dunkel war, um auf dem Hof nach dem Rechten zu sehen.
An diesem Morgen aber schien er keinen Gedanken dafür zu haben. Sie waren beide schweigsam, als wäre der Schmerz wegen der bevorstehenden Trennung zu groß, um ihn mit Worten zu besänftigen oder erträglicher zu machen. Das frische, knusprige Brot, das Intri gebacken hatte, fühlte sich wie Schafswolle in Dindras Mund an.
Schließlich entschloss sich Etru, zu reden.
„Godru behauptet, er hätte gestern Nacht einen Drachen draußen auf der Ebene gesehen.” Er lachte grimmig. “Seit die Leute wissen, dass du nach Goldfels gehst, sehen sie überall Drachen. Wahrscheinlich war er nur betrunken.”
Godru war einer der Knechte des Hofes und dafür bekannt, öfter einen über den Durst zu trinken.
„Ein Drache?”, fragte Dindra erstaunt. „Wo?”
„Bei der Waldinsel südwestlich von der Schneise, behauptet Godru.”
Dindra stutzte. Das war die Stelle, an der sie Ryll und Maquon getroffen hatte. Waren sie zurückgekehrt? Aber dann wären sie sicher auf den Hof gekommen. Und warum sollten sie nachts auf der Ebene landen? Es würde so bald nach dem letzten Gewitter nicht wieder eines geben.
Sie dachte an ihren Traum. An das Gefühl, dass jemand nach ihr suchte.
Die Dunkelheit, in die Maquons erste Berührung sie versetzt hatte, ähnelte der in ihrem Traum: bedrohlich und unheimlich, als käme sie aus einer anderen Welt, einer Traumwelt vielleicht, die Dindra für einen kurzen Augenblick betreten hatte. Der Gedanke kam ihr, dass das, was in der Dunkelheit war, auch der Grund gewesen sein könnte, warum Maquon an jenem Tag, als Ryll, mit ihm auf der Ebene landen musste, so verstört gewesen war. Er war ruhig geworden, als ihr Leuchten die Dunkelheit vertrieben hatte, und es kam ihr nun vor, als wäre er dankbar dafür gewesen. Er hatte ihr Schönes gezeigt: die Welt aus der Sicht eines fliegenden Drachen. War das die Gabe der Drachenzähmer, von der Ryll gesprochen hatte? Dass sie Maquons Gedankenbilder empfangen und die Traumwelt betreten konnte? Und hatte sie eine Spur in jener Welt hinterlassen, in der sie von einem Leuchten umgeben war? Eine Spur, die jemand verfolgte, so verstohlen, tastend und schnüffelnd wie ein Tier, das nichts Gutes im Sinn hatte. Aber welche Verbindung gab es zwischen der unheimlichen Traumwelt und ihren eigenen Träumen? Wenn es etwas gab, wovor sich sogar Drachen fürchteten, dann war es kein Wunder, dass die Träume ihr Angst machten. Und ausgerechnet an der Stelle, wo sie jenes seltsame Erlebnis mit Maquon hatte, sollte, laut Godru, ein Drache gelandet sein. War er es vielleicht, der sie in ihren Träumen suchte? Möglicherweise gab es Drachen, von denen Dindra nichts wusste. Gefährliche Drachen, die ganz anders waren als Maquon.
Etru hatte gesagt, ihm sei es manchmal vorgekommen, als ob ihre Mutter vor etwas geflohen wäre. Wovor? Vor etwas, das in dunklen Träumen lauerte?
All diese Fragen beunruhigten Dindra. „Vielleicht“, dachte sie, „kann ich in Goldfels mit den Drachenzähmern darüber reden.“
Als es Zeit wurde, aufzubrechen, war sie in bedrückter Stimmung, nicht nur weil es galt, Abschied zu nehmen.
Der alte Anso aus dem Dorf, ein grauhaariger, aber rüstiger Mann mit einem zauseligen langen Bart und einer roten Nase, die wie eine Erdbeere aussah, sollte einen Wagen mit Getreide und eine kleine Herde Schafe nach Goldfels bringen, eine Aufgabe, die er mehrmals in jedem Mond erledigte, und Dindra sollte mit ihm fahren. Sie mochte ihn. Er war immer freundlich zu ihr gewesen. Als er auf den Hof fuhr und sie sah, schlug er die Hände über dem Kopf zusammen.
„Dindra Etrustochter, wie siehst du aus?”, rief er. “Wo sind deine langen Haare, deine Zöpfe?” Er lachte, und seine Augen sahen aus, als wären sie in einem Spinnennetz gefangen. Während er in seinem singender Tonfall fortfuhr, vertieften sich die Falten noch. „Du warst die schönste Tochter der Ebene weit und breit. Immer wenn du über das Grasland gerannt bist und dein Haar hinter dir her wehte, sagte ich, seht nur, was für ein hübscher Vogel über die Ebene fliegt, mit schwarzem Köpfchen und buntem Gefieder. Dindra, Vögelchen, warum willst du uns verlassen? Warum hast du dir die Haare abgeschnitten?”
Dindra lachte. „Das Geflatter macht die Drachen unruhig, Väterchen.”
Anso lächelte wehmütig. „Du warst immer ein fremdes, seltsames Vögelchen. Und nun wirst du die Drachen oben am Himmel reiten und uns vergessen.”
Dindra spürte einen Stich. Sie schaute zu Etru, der das Verladen des Getreides beaufsichtigte, aber zunächst waren da noch Intri und Mondri, die vor der Tür des Hauses standen und todunglücklich aussahen. Die dicke Köchin tupfte mit einem Zipfel ihrer Schürze an ihren Augen herum und machte ein gekränktes Gesicht, als wäre Dindras Entschluss, fortzugehen, eine persönliche Beleidigung für sie. Mondri hatte einen Daumen in den Mund gesteckt und kaute darauf herum, während ihre runden Augen voller Tränen standen. Dindra umarmte die beiden. In den letzten Tagen hatte sie sie nach Kirin gefragt, aber Mondri war kaum älter als sie selbst und Intri war, wie die meisten anderen Mägde, erst vor wenigen Jahren auf den Hof gekommen. Es schien, als ob sich auf dem Hof niemand außer Etru an ihre Mutter erinnerte.
„Pass auf, dass die Drachen dich nicht verbrennen, hörst du?”, sagte Intri weinerlich, und Mondri schluchzte laut auf. „Das ist doch nichts für ein Mädchen, Kind. Ich bin sicher, bevor die Zeit der kühlen Sonne vorbei ist, bist du wieder zurück.”
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