»Kann mir eine von euch Antwort geben auf meine Frage?«
In der ersten Bank fährt ein Mädel hoch. Es hat schwarze Wuschelhaare, begehrliche Augen und einen aufgeschürzten Mund.
»Nun, Jeanne Abadie«, nickt die Lehrerin. Es ist der Name, den sie am öftesten nennt. Jeanne Abadie lässt flink ihr Licht leuchten:
»Die Heilige Dreifaltigkeit, das ist einfach der Herrgott ...«
Das durchgearbeitete Gesicht der Nonne verzieht sich zu einem Lächeln:
»Nun, so einfach ist es nicht, meine Liebe ... Aber du hast wenigstens eine blasse Ahnung ...«
In diesem Augenblick erhebt sich die ganze Klasse, um dem Abbé Pomian, der in den Schulraum getreten ist, die Ehrenbezeigung zu leisten. Der junge Geistliche, einer der drei Kapläne des Dechanten Peyramale, macht seinem Namen Pomian Ehre. Er hat pralle rote Apfelbäckchen und scherzhaft schmunzelnde Augen.
»Ein kleiner Prozess, ma Sœur?« fragt er beim Anblick der armen Sünderin, die noch immer vor den Bänken steht.
»Ich muss leider Klage führen über Bernadette Soubirous, Herr Abbé«, sagt die Lehrerin. »Sie ist nicht nur sehr unwissend, sondern gibt auch kecke Antworten.«
Bernadette macht eine Bewegung mit dem Kopf, als wolle sie etwas richtigstellen. Abbé Pomians stark behaarte Hand dreht ihr das Gesicht zum Licht:
»Wie alt bist du, Bernadette?«
»Vierzehn Jahre schon vorüber«, antwortet die helle Stimme des Mädchens.
»Sie ist die Älteste in der Klasse und die Unreifste«, flüstert die Vauzous dem Kaplan zu. Er aber schenkt ihr keine Aufmerksamkeit, sondern wendet sich wieder an Bernadette:
»Kannst du mir sagen, ma petite, an welchem Tag und in welchem Jahr du geboren bist?«
»O ja, das kann ich dem Herrn Abbé schon sagen. Ich bin geboren am siebenten Januar 1844 ...«
»Da siehst du's also, Bernadette. Du bist gar nicht so dumm und kannst ganz verständig antworten ... Weißt du vielleicht auch, auf welche Oktave dein Geburtstag fällt oder, damit du mich besser verstehst, welches Fest feiern wir am Tage vor deinem Geburtstag? Erinnerst du dich? Es ist ja nicht lange her ...« Bernadette sieht den Kaplan mit derselben sonderbaren Mischung von Festigkeit und Apathie an, welche Sœur Marie Thérèse vorhin in Harnisch gebracht hat.
»Nein, daran erinnere ich mich nicht«, gibt sie zur Antwort und lässt ihren Blick nicht fallen.
»Macht nichts«, lächelt Pomian. »Dann will ich es dir und den andern sagen. Am sechsten Januar feiern wir das Dreikönigsfest. Da bringen die Heiligen Drei Könige aus Morgenland wunderbare Geschenke dem Christkind in den Stall von Bethlehem. Gold und Purpur und Weihrauch. Hast du die Krippe in der Kirche gesehen, Bernadette, wo auch die Heiligen Drei Könige abgebildet sind?«
Bernadette Soubirous wird lebhaft. Eine leichte Röte fliegt ihr übers Gesicht.
»O ja, die Krippe habe ich gesehen«, ruft sie entzückt. »All die schönen Figuren, und ganz wie wirkliche Leute, die Heilige Familie und der Ochs und der Esel und die drei Könige mit Krönchen und goldenen Stecken, o ja, die habe ich gesehen ...« Die großen Augen des Mädchens werden selbst ganz golden von der Kraft des Bildes, das es in sich wachruft.
»Somit wüssten wir also etwas über die Heiligen Drei Könige ... Merk dir's, Bernadette, und nimm dich zusammen, denn du bist schon eine erwachsene Person.«
Abbé Pomian zwinkert der Lehrerin listig zu, hat er ihr doch eine Unterweisung in der rechten Pädagogik erteilt. Dann wendet er sich zur ganzen Klasse:
»Der siebente Januar ist ein wichtiger Festtag für Frankreich. Da wurde jemand geboren, der das Vaterland aus der tiefsten Schande gerettet hat. Das geschah genau vor 446 Jahren. Denkt nach, Kinder, ehe ihr antwortet!«
Sofort triumphiert irgendwo eine schrille Stimme:
»Der Kaiser Napoleon Bonaparte!«
Sœur Marie Thérèse Vauzous presst die Hände gegen ihren Unterleib, als sei sie das Opfer einer jähen Kolik. Einige Mädchen meinen, es sei nun eine gute Gelegenheit herauszuwiehern wie die Wilden. Der Abbé aber bewahrt seinen heiteren Ernst:
»Nein, liebe Kinder, der Kaiser Napoleon Bonaparte wurde viel, viel später geboren ...«
Und er geht zur Tafel und schreibt mit großen Fibelbuchstaben, denn viele der Mädchen sind noch nicht über die Anfangsgründe des Lesens und Schreibens hinaus:
»Jeanne d'Arc, die Jungfrau von Orléans, geboren am 7. Januar 1412 in Domrémy.«
Während der Chor der Schülerinnen in dumpfem Durcheinander diese Schrift zu entziffern beginnt, läutet die Schulglocke. Es ist elf Uhr. Bernadette Soubirous steht noch immer vor der ersten Bankreihe im leeren Raum der Prüfung. Die Nonne Marie Thérèse Vauzous richtet sich hoch auf. Ihr stolzes Gesicht wirkt im matten Februarlicht sehr leidend:
»Durch dich sind wir im Katechismus nicht weitergekommen, liebe Soubirous«, sagt sie sehr leise, so dass nur Bernadette sie hören kann. »Überleg's dir einmal, ob du das wert bist ...«
Kapitel Vier. Café Progrès
Auf dem Stadtplatz Marcadale, wo zumeist sich das öffentliche Leben von Lourdes abspielt, liegt zwischen den beiden großen Speisehäusern das Café Français. Es ist nicht weit entfernt von der Haltestelle der Postomnibusse, von dem wichtigsten Einfallspunkt der großen Welt in die kleine Welt des Pyrenäenstädtchens. Der Cafétier, Monsieur Duran, hat unter erheblichem Kostenaufwand das Lokal im vorigen Jahre neu eingerichtet. Roter Plüsch, Marmortische, Spiegelscheiben, ein riesiger Kachelofen, der einem zinnengekrönten römischen Wachtturm gleicht. Dank dieser Festung von einem Ofen ist das Café Français der bestgeheizte Raum von Lourdes. Herr Duran aber sorgt nicht nur für Wärme, er sorgt auch für Licht. Er hat eine neuartige Form der Beleuchtung eingeführt. Starke, grünbeschirmte, dauerhaft strahlende Petroleumlampen, die, an waageförmigen Stangen befestigt, von der Decke herabhängen und ihren weißlich heimeligen Schein über die Marmortische gießen. Der Cafétier ist überzeugt davon, dass in dem neuerungstollen Paris, das jeder modernen Erfindung atemlos nachläuft, nur sehr wenige Gaststätten mit solchem Lichte gesegnet sind. Duran ist im Gegensatz zu den meisten seiner Landsleute kein besonders sparsamer Mann. Er lässt sein Licht auch am Tage leuchten, wenn es nötig ist, wie zum Beispiel heute, da die Winterdämmerung nicht weichen will. Er geht in seiner Großmut noch weiter. Nicht beim materiellen Lichte lässt er es bewenden. Er ist bestrebt, geistiges Licht zu verbreiten. Zu diesem Zwecke hängen an den Kleiderrechen, wohleingerahmt, eine Menge der großen Pariser Zeitungen, deren Abonnementsspesen der Inhaber des Café Français nicht scheut. »Le Siècle« ist vorhanden, »L'Ère Impériale«, »Le Journal des Débats«, »La Revue des Deux Mondes«, »La Petite République«. Jawohl, auch diese »Petite République«, ein höchst revolutionäres Blatt, gegen den Kaiser und seine Regierung gerichtet, eine kampflustige Gazette, hinter der, wie jedermann weiß, Louis Blanc in Person steht, der sozialistische Gottseibeiuns. Dass »Le Lavedan«, das Wochenblatt von Lourdes, aufliegt, muss nicht eigens erwähnt werden. Die Redaktion hat mit Herrn Duran ein beiderseits günstiges Abkommen getroffen, demzufolge jeden Donnerstag vier Exemplare des frischen »Lavedan« auf den Marmortischen zu liegen haben. Im Hinblick auf all diese Bemühungen um die geistige Verpflegung seines Gästekreises ist es zu verstehen, dass Durans ehrgeiziges Café Français von manchen Leuten auch »Café Progrès« genannt wird.
Zweimal des Tages hat das Lokal ganz großen Zuspruch. Das ist um elf Uhr herum, zur Stunde des Apéritifs, und dann am Nachmittag um vier, wenn die Büros des Landgerichtes schließen. Die Beamten dieser Behörde sind treue Stammgäste des Café Français. Der französische Staat verfolgt bei der Dislozierung seiner Ämter ein eigensinniges Prinzip. Die Préfecture des Départements befindet sich in Tarbes. Demgemäß sollte die Sous-Préfecture in der nächstwichtigen Kantonalstadt ihren Sitz haben, in Lourdes. Aber nein, diese hohe Behörde ist in dem winzigen Argelès untergebracht, wo sie und das Oberkommando der Gendarmerie vom Blutkreislauf der Verwaltung so ziemlich abgeschlossen sind. Der Grund für diese Verbannung bleibt unerfindlich. Lourdes ist darüber mit Recht gekränkt. Lourdes muss besänftigt werden. Man macht es also zum Sitz einer hohen Gerichtsinstanz, die von Rechts wegen nach Tarbes gehört. So kommt es, dass Monsieur Duran zu seinen Gästen zählt Pougat, einen regelrechten Landgerichtspräsidenten, mehrere Richter, den kaiserlichen Staatsanwalt Dutour, eine Anzahl von Verwaltungsbeamten, Rechtsanwälten und Gerichtsschreibern.
Читать дальше