Es ist noch lange nicht elf Uhr, als François Soubirous, diesmal nicht mehr mit leerem Magen und hoffnungsloser Seele, vor Cazenave steht.
»Ihr Befehl ist ausgeführt, mon capitaine!«
Nach längerem Handel und mehreren, immer strammer wiederholten »mon capitaine«'s hält er schließlich fünfundzwanzig Sous in Händen. An der Ecke der Rue des Petites Fossées ist Soubirous noch immer bereit, den vollen Betrag an Louise abzuführen. Doch schon vor dem Estaminet Vater Babous tritt ihn der Versucher an, dem er, der Mühen des heutigen Vormittags eingedenk, nur einen erschöpften Widerstand entgegensetzt. Zwanzig Sous, ein rundes Silberstück, war der ausgesetzte Preis für seine Arbeit. Die fünf großen Kupferstücke sind ein Überpreis. Wo steht es geschrieben, dass ein guter Familienvater, der sich für die Seinen in der Winterkälte plagt wie selten einer, diese elenden fünf Sous, dieses Sündengeld nicht für sich selbst verwenden dürfe? Vater Babou begehrt für einen Achtelliter seines Selbstgebrannten Kräuterteufels nicht mehr als zwei Sous. Soubirous findet das äußerst preiswert. Er hält sich aber bei Vater Babou nicht länger auf, als man braucht, um einen einzigen Kräuterteufel zu leeren.
Im Cachot schlägt ihm ein angenehmer Dunst entgegen. Kein »Milloc« heute, kein Maisbrei, dem Himmel sei Dank! Maman bereitet eine Zwiebelsuppe. Diese Weiber sind nicht kleinzukriegen, denkt er. Sie schaffen immer wieder etwas her. Weiß Gott, vielleicht hilft ihnen der Rosenkranz, den sie stets in der Schürzentasche tragen. Soubirous macht sich zuerst längere Zeit in der Stube gleichgültig zu schaffen, ehe er seinem Weibe die Silbermünze überreicht, gelassen, als wäre das nur ein geringer Vorschuss auf die Louisdors, die er morgen zu erwarten habe.
»Du bist ein tüchtiger Bursche, Soubirous«, sagt sie nicht ohne anerkennendes Mitleid, und auch er ist überzeugt davon, dass er heut mit dem Leben ganz gut fertig geworden ist. Dann stellt sie einen Teller Zwiebelsuppe vor ihn auf den Tisch. Er löffelt, wie es seine Art ist, mit nachdenklicher Strenge. Sie sieht ihm zu und seufzt.
»Wo sind die Kinder?« fragt er, nachdem er sein Mahl beendet hat.
»Die Mädchen müssen gleich aus der Schule kommen, und Justin und Jean Marie spielen unten ...«
»Die Kleinen sollten nicht auf der Straße spielen«, bemerkt der ehemalige Müller mit standesbewusstem Tadel. Da sich Louise in keine Diskussionen über diesen Ehrenpunkt einlässt, erhebt sich Soubirous, gähnt, stöhnt, reckt und streckt sich:
»Ich bin tüchtig durchgefroren nach alledem, am besten, man geht zu Bett. Man hat sich's verdient ...«
Die Soubirous schlägt die Bettdecke zurück. Er tritt aus den Pantinen, wirft sich hin und zieht die Decke bis an die Nase. Wenn man auch bettelarm ist und ungerecht behandelt vom Schicksal, manchmal tut einem das Leben doch köstlich wohl, insbesondere nach getaner Pflicht. Soubirous fühlt Sättigung, steigende Wärme und eine ausgesprochene Zufriedenheit mit sich selbst, die ihn in einen raschen Schlaf hinübergeleitet.
Kapitel Drei. Bernadette weiß nichts von der Heiligen Dreifaltigkeit
Hinterm Lehrertisch sitzt Sœur Marie Thérèse Vauzous, eine der Klosterfrauen von Nevers, die an das Hospital und die ihm angeschlossene Mädchenschule in Lourdes abgeordnet sind. Sœur Marie Thérèse ist noch jung, und sie könnte für schön gelten, wenn ihr Mund nicht allzu schmal und ihre hellblauen Augen nicht allzu eingesunken wären. Die Blässe des feingeformten Gesichtes wirkt unter dem schneeweißen Haubenvorstoß krankhaft gelblich. Die langgefiederten Hände deuten auf ausgezeichnete Herkunft. Wenn man aber näher hinsieht, so sind diese adligen Hände rot und aufgesprungen. Was die erbarmungslosen Zeichen der Strenge und Abtötung anbetrifft, so bietet die Nonne Vauzous zweifellos das Bild einer mittelalterlichen Heiligen dar. Der Katechet von Lourdes, Abbé Pomian, der ein feiner Spötter ist, sagt von ihr: »Die gute Sœur Marie Thérèse ist weniger eine Braut als eine Amazone Christi.« Er kennt die Klassenlehrerin Vauzous ziemlich genau, da sie ihm als Gehilfin beim Religionsunterricht der Mädchen zugeteilt ist. (Die seelsorgerliche Pflicht führt den Kaplan Pomian viel in den Dörfern und Märkten des Kantons umher, so dass er oft tagelang von Lourdes abwesend ist. Er selbst pflegt sich dann einen Commis Voyageur Gottes zu nennen. Sein Oberer, der Dechant Peyramale, verabscheut dergleichen witzige Aperçus.) Marie Thérèse Vauzous bereitet die Kinder unter Pomians Leitung zur Erstkommunion vor, die im Frühjahr stattfindet.
Vor der Lehrerin steht ein Mädchen. Es ist ziemlich klein für sein Alter. Das runde Gesicht ist sehr kindlich, während der schmächtige Körper bereits die Frühreife der südländischen Rasse erkennen lässt. Das Mädchen ist in einen bäuerlichen Kittel gekleidet. An den Füßen trägt es Pantinen. Aber alle Kinder, und nicht nur die Kinder, tragen hier Holzschuhe bis auf die wenigen, die aus den sogenannten besseren Kreisen stammen. Die braunen Augen des Mädchens halten dem Blick der Klosterfrau ruhig stand. Ihr eigener Blick ist frei, abwesend und beinahe apathisch. Etwas in diesem Blick macht Sœur Marie Thérèse unruhig:
»Und weißt du wirklich nichts über die Heilige Dreifaltigkeit, liebes Kind?«
Das Mädchen wendet den Blick noch immer nicht von der Lehrerin und antwortet unbefangen mit einer hellen Stimme:
»Nein, ma Sœur, ich weiß nichts darüber ...«
»Und du hast niemals etwas davon gehört?«
Das Mädchen denkt lange nach, ehe es sagt:
»Möglich, dass ich was davon gehört hab ...«
Die Nonne klappt ihr Buch zu. Ein wirkliches Leiden tritt auf ihre Züge:
»Jetzt weiß ich nicht, mein Kind, soll ich dich für dreist halten, für gleichgültig oder nur für dumm ...«
Ohne den Kopf zu senken, entgegnet Bernadette, als ob sie das nichts anginge:
»Ich bin dumm, ma Sœur ... In Bartrès haben sie gesagt, dass ich keinen Kopf zum Lernen hab ...«
»Also, wie ich's gefürchtet hab«, seufzt die Lehrerin. »Du bist frech, Bernadette Soubirous ...«
Die Vauzous geht auf und ab vor den Bänken. Sie muss, eingedenk ihrer Pflicht als geistliche Person, einen heftigen Unwillen niederkämpfen. Währenddessen beginnen die achtzig oder neunzig Mädchen der Klasse unruhig zu rutschen und immer lauter zu plappern.
»Ruhe«, befiehlt die Lehrerin. »Unter was für ein Volk bin ich geraten? Ihr seid Heiden, ärger und unwissender als Heiden ...«
Eines der Mädchen meldet sich, mit der Hand fuchtelnd:
»Bist du nicht auch eine Soubirous?« fragt die Nonne, die erst vor einigen Wochen die Klasse übernommen hat und noch nicht alle Gesichter mit den dazu gehörenden Namen in Einklang bringen kann.
»Jawohl, ma Sœur. Ich bin die Marie Soubirous ... Ich wollte nur sagen, dass Bernadette, dass meine Schwester immer krank ist ...«
»Du bist eigentlich danach nicht gefragt worden, Marie Soubirous«, rügt die Lehrerin, der dieser schwesterliche Beistand als eine Art Aufruhr erscheint. Mit christlicher Milde allein kann man eine Horde von neunzig Proletariermädchen nicht in Zucht halten. Die Vauzous versteht es aber sehr gut, sich Respekt zu verschaffen.
»Krank ist deine Schwester?« fragt sie. »Was für eine Krankheit?«
»Athma heißt es, oder so ...«
»Du meinst wohl Asthma ...«
»Jawohl, ma Sœur, Asthma! Der Doktor Dozous hat das gesagt. Sie kann nicht atmen, oft ...«
Marie ahmt drastisch einen Anfall von Schweratmigkeit nach. Es ist ein Gaudium für die Klasse. Die Lehrerin schneidet mit einer Handbewegung das übertriebene Gelächter ab:
»Asthma hindert niemanden am Lernen und an der Frömmigkeit.« Sœur Marie Thérèse runzelt die Augenbrauen und überblickt die Klasse:
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