Jeanne und ihre Gefährtinnen erneuern im Chor die Bitte. Nur Bernadette schweigt.
»Was hat deine Dame in der Hand gehalten?« fragt Cazenave. »Einen Rosenkranz, heh?«
»Ja, Herr, einen Rosenkranz, einen sehr langen mit großen, weißen Perlen ...«
»Nun, da siehst du's, Soubirous«, amüsiert sich der Postmeister. »Wenn die Dame einen Rosenkranz bei sich hat, wie alle andern Damen von Lourdes, dann kannst du dein Töchterchen ruhig mit ihr verkehren lassen ...«
Der Intervention eines Brotherrn muß man sich beugen. Da hilft nichts.
»Aber in einer halben Stunde habt ihr zurück zu sein«, gebietet der Vater.
»Das ist doch ganz unmöglich, Monsieur Soubirous«, erklärt die Abadie. »Es ist ein langer Weg ...«
Der völlig geschlagene und zum Rückzug gezwungene Hausvater brummt:
»Mit dem Mittagessen wird nicht gewartet ...«
Die Mädchen plättern auf und davon wie ein Strich Rebhühner im Feld. Der Kurschmied beschmiert die wunde Stelle auf dem Pferderücken mit schwarzer Salbe. Wenige Minuten später führt Soubirous den kranken Gaul in seinen Stall zurück. Während er ihm frisches Stroh aufschüttet, bemerkt er zu seinem eigenen Erstaunen, daß er Tränen in den Augen hat. Er weiß selbst nicht, ob er über seine eigene Niederlage als Vater weint oder über ein heraufziehendes Unheil, das er in der dumpfen Brust spürt.
Auf dem Pont Vieux kommt es zu einem heftigen Streit zwischen den Mädchen. Jeanne Abadie will den kürzeren Weg über die Chalet-Insel nehmen, um dann über den Mühlsteg der Nicolaus aufs andere Ufer des Savy-Bachs zu gelangen.
»Es hat seit zwei Tagen ununterbrochen geschneit und geregnet«, meint Bernadette. »Da wird die Schleuse offen sein und der Steg unter Wasser. Wir müssen über den Berg ...«
»Aha«, spottet die Abadie. »Das Ei ist wieder einmal klüger als die Henne ... Ich glaub, auf mich kannst du dich verlassen ...«
Bernadette bleibt fest. Es bilden sich zwei Parteien. Selbstverständlich stößt die Mehrheit zur Abadie, dem Oberhaupt des Bundes. Auf Seiten Bernadettens verharren nur Marie, Madeleine Hillot und Toinette Gazalas. Hinter der Brücke trennen sich die Wege und die Parteien.
»Wir werden ja sehen, wer früher da ist«, ruft die ehrgeizige und siegesbewußte Jeanne dem feindlichen Häuflein zu. Bernadette fliegt voran, so daß ihr die andern kaum folgen können. Ein Wirbelwind scheint sie Massabielle entgegenzutragen. Jeder schnelle Lauf bedroht sie sonst mit Atemnot. Heute aber weiß sie nicht, daß sie je an Asthma gelitten hat. Marie will sie zurückhalten. Sie hört nichts. Keinen Augenblick zweifelt sie daran, daß die Dame ihrer wartet, mit den blassen, nackten Füßen am Rande der Felsnische stehend. Vielleicht ist sie schon ungeduldig, weil Bernadette so lange säumt. Vielleicht auch leidet sie unter der feuchten Kälte. Nebeldämpfe wälzen sich durch die Täler. Bernadette umhegt das körperliche und seelische Wohlbefinden der Dame mit eifersüchtigst sorgenden Gedanken. Der Gefährtinnen denkt sie kaum. Es ist ihr nicht wichtig, ob die Allerlieblichste den Mädchen erlauben wird, sie anzuschaun oder nicht. Bernadette hat nicht den geringsten Wunsch, irgend jemanden von der Wirklichkeit ihrer Dame zu überzeugen. Für sie gibt es nichts Wirklicheres. Die Mädchen keuchen und rufen hinter ihr drein. Sie aber ist so bedingungslos einsam, wie nur einer einsam ist, den eine übermächtige Liebe bis zum Rande erfüllt. Nun eilt sie über den Knüppelpfad des Spelunkenberges dahin. Die halsbrecherische Stelle kommt, die am oberen Rande der Grotte entlang führt. Mit halb geschlossenem Auge springt, ja schwebt Bernadette von Stein zu Stein. Noch ein Schwung, und sie ist unten. Mitten im Geröll des Grottenbodens macht sie eine kleine Pause, atmet tief, preßt die Hand aufs Herz, sammelt sich. Dann hebt sie die Augen zur Nische auf ...
Die drei Mädchen, die mühsam das letzte steile Wegstück hinabklettern, hören ihren Aufschrei:
»Sie ist da ... Ja, sie ist da ...«
Sie finden Bernadette, wie sie mit zurückgeworfenem Kopf und weit aufgerissenen Augen in das ovale leere Fenster starrt und immer wieder flüstert:
»Sie ist da ... Sie ist da ... Sie ist da ...«
Die Mädchen drängen sich dicht an Bernadette und flüstern nun auch aus verengten Kehlen:
»Wo ist sie ... Wo siehst du sie ...?«
»Dort oben, sie ist gekommen ... Seht ihr nicht, wie sie grüßt?«
Bernadette macht einige ihrer eifrig scheuen Schulmädchenkomplimente.
»Ich seh dort oben nur das schwarze Loch«, sagt die Gazalas. »Dahinter ist ein großer Stein. Da kann doch niemand heraustreten ...«
»Ich seh überhaupt gar nichts«, zwinkert Marie angestrengt.
»Sie sieht euch, sie sieht euch«, flüstert Bernadette. »Sie hat genickt und euch begrüßt. Ihr müßt auch grüßen ...«
»Sollen wir nicht näher kommen?« zischt Marie.
Bernadette breitet entsetzt die Arme aus:
»Nein, nein, um Gottes willen nicht näher kommen, keinen Schritt!«
Allzu nah fühlt sich die Beglückte der Beglückenden, ganz anders als das erste Mal. Damals war zwischen ihnen ein weiter Abstand, die ganze Breite des Bachs. Die Dame mußte in wellenhaften Annäherungen der Erkorenen ihr Antlitz darbieten, darbringen. Heute ist sie zum Greifen nahe. Bernadette müßte nur auf einen der Blöcke unter der Felswand sich schwingen und die Arme ausstrecken, dann könnte sie fast die bloßen Füße mit den goldenen Rosen berühren. Sie bleibt aber angewurzelt stehn, um durch ihre, wie sie es fühlt, plumpe und gewöhnliche Gegenwart der Dame nicht lästig zu werden. Diese hat zur großen Befriedigung des Mädchens ihr Kleid nicht gewechselt, obwohl der Vornehmen gewiß eine unerschöpfliche Garderobe zur Verfügung steht. In weichen Falten schmiegt sich der schneeweiß unbekannte Samt um die zierlichen Glieder. Der durchsichtige Schleiermantel fällt über die Schultern herab. Es ist herzerquickend zu sehn, daß der leichte Wind dieses Tages mit ihm spielt. Die Dame scheint eine ewige Braut zu sein und immer vor dem Traualtar, da sie den Schleiermantel nicht ablegt. Merkwürdig aber ist es, daß sie mitten in ihrem Glanz nicht die geringste Verstimmung zu erkennen gibt, weil Bernadette sie nicht allein aufgesucht hat, sondern in Begleitung dieser albern wispernden Mädchen. Es macht sogar den Eindruck, als fände sie es von ihr recht lobenswert, nicht den Mund gehalten zu haben. Sie nimmt jedenfalls keinen Anstoß an der Gesellschaft, in der sie sich findet, und wirft der Marie und der Madeleine und der Toinette dann und wann einen ermunternd freundlichen Blick zu. Bernadette hört hinter sich das Geflüster der Hillot:
»Jetzt nimm das da und spritz sie an und sag zu ihr, was wir besprochen haben ...«
Bernadette hält das Fläschchen mit dem Weihwasser in der Hand, das Madeleine Hillot aus dem Becken in der Kirche gefüllt hat. Mehr aus einer Schwäche den Mädchen gegenüber als aus eigenem Antrieb tut sie das, was man verabredet hat. Sie spritzt ein bißchen von dem Weihwasser ungenau in die Höhe zur Nische empor und dann leiert sie zaghaft:
»Wenn Sie aus Gott sind, Madame, so kommen Sie bitte näher ...«
Erschrocken bricht Bernadette ab. Nie könnte sie den häßlichen Satz mit »Teufel« und »heben Sie sich weg« beenden. Die Dame aber würde vermutlich auch ihn nicht übelnehmen. Sie scheint über die Beschwörungsformel recht erheitert zu sein, denn ihr Lächeln ist fast schon ein herzinniges Lachen. Und jetzt gehorcht sie. Und jetzt tritt sie über die Maßen weit aus dem Felsoval mit ihren so ungebrauchten Füßen. Jedes schwerere Geschöpf müßte das Gleichgewicht verlieren. Sie aber streckt mit einer umarmenden Gebärde die Hände aus. Bernadette spürt, daß es wieder über sie kommt, dieses schrecklich süße Wohlsein, diese Schläfrigkeit ohne Grenzen, aus der das Erwachen ein Erwachen in die grauenhafteste Fremde ist. Sie fürchtet sich vor diesem Erwachen, ehe sie stumm in die Knie bricht.
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